Im moralischen Prokrustesbett

Die Rede des Papstes vor dem Bundestag war eine große Rede – eine Rede voller Teile, denen man beim Hören unmittelbar zustimmen möchte, eine Rede, die viele wichtige Impulse setzt. Es war aber auch eine Rede, deren oberflächliche Konsensfähigkeit nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß es dem Papst im Kern damit um einen hochproblematischen Naturbegriff geht mit sehr praktischen Konsequenzen.

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Der Öffentlichkeit nicht den Boden entziehen. Anforderungen an ein neues Urheberrecht

Das Sigint-Panel zum Thema Urheberrecht (meine Einführung dazu hier) hätte der Ausschreibung nach lösungsorientiert sein sollen, und das ist grandios gescheitert. Man kann nicht zu Lösungen kommen, wenn eine Partei (hier waren es der Vertreter der Musikindustrie und der exemplarische Künstler) das Problem leugnet. Für eine lösungsorientierte Diskussion des Themas Urheberrecht darf man nicht beim Geld anfangen. Man muß beim zu schützenden Rechtsgut anfangen – und das ist nicht das ökonomische Interesse, das ein fiktives »geistiges Eigentum« kodifiziert und durchgesetzt sehen will. Es ist das Interesse an einer funktionierenden öffentlichen Sphäre.

Die Diskussion über Geld, Leistung und Geschäftsmodelle ist nachgelagert.
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Thierse, blockier’se?

Als ich zum ersten Mal gelesen hatte, daß Wolfgang Thierse an einer Sitzblockade gegen die Nazidemo am 1. Mai teilgenommen hat, fand ich das gut. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verzwickter scheint mir aber der Fall zu sein. Einfach nur einen strikten Rechtspositivismus gegen Thierse oder die guten Absichten aller für Thierse ins Feld zu führen, ist mir zu einfach.

Das Spannungsfeld, das diesen Fall so interessant macht, ist der Interessenskonflikt zwischen Thierse als Bürger und Thierse als Repräsentant eines Verfassungsorgans, auf die Spitze getrieben in der Frage: Ist ziviler Ungehorsam des Staates gegen sich selbst möglich, zulässig?
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Mehrheit und Wahrheit

Die Kritik an meinem Artikel zum Minarettverbot, das ich für illegitim halte, hebt darauf ab, daß meiner zentrale These widersprochen wird:

Wenn die Herrschaft des Rechts aber bestehen soll, dann darf es keine uneingeschränkte Herrschaft der Mehrheit geben.

Widersprochen wird etwa bei Spreeblick, ab Kommentar 196:

Wer entscheidet denn, was Recht und Unrecht sein soll in einer Gesellschaft ausser deren Mehrheit?

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Der Buchstabe tötet

In der aktuellen FAZ (Nr. 194, S. 10) kommentiert G.H. unter dem possierlichen Titel »Mützenfanatismus« die Kopftuchdebatte: Sollen Lehrerinnen Kopftücher tragen dürfen? Für G.H. ist die Sache klar:

Wer aus religiösen Gründen staatliche Gesetze missachtet – ein Schnippchen schlagen wollen ist schon eine Form der Missachtung –, zeigt Anzeichen von Fanatismus und ist als staatlich besoldetes Vorbild für Kinder ungeeignet.

So einfach ist das. Im fraglichen Fall geht es um die Lehrerin, die statt eines Kopftuchs eine Mütze tragen wollte. Die praktischen Probleme eines säkular motivierten Mützenverbots sind schon kompliziert genug. Vom Grace-Kelly-Kopftuch über Baseballmützen zu Habit, Kippa und Perücke gibt es einen breitestmöglichen Graubereich, um nur die Kopfbedeckung anzusprechen (und nicht von Paris-Hilton-Kreuzen und Knasttätowierungen anzufangen).

Das eigentliche Problem ist der völlig naive Rechtspositivismus, der nicht einmal eine schiefe Ebene zugestehen will, sondern gleich den theokratischen Abgrund herbeibeschwört.

Ist es denn immer verkehrt, »aus religiösen Gründen staatliche Gesetze zu mißachten«? (Und ausdrücklich: im legitimen Rechtsstaat!) Schönbohm beschwört gerade die Rechristianisierung des Ostens, mit genuin staatstragender Motivation. Wer so etwas ernsthaft fordert, der muß auch mit dem subversiven Potential eines vom rechtlichen erstmal unabhängigen Systems klarkommen. Was würde der Kommentator zu Kirchenasyl sagen? Ist damit jeglicher ziviler Ungehorsam desavouiert? (Oder nur dann, wenn er religiös motiviert ist?)
Das Problem einer solchen kategorischen Sicht, die gleich alles unter einen Fanatismusverdacht stellt, ist ihr rechtspositivistischer Fanatismus: Dem Gesetz wird grundsätzlich eine umfassende Gültigkeit und eine umfassende Legitimität zugesprochen nicht nur im Kernbereich, sondern auch in seiner Peripherie; wo es Graubereiche gibt, werden die nicht zugunsten des in seiner Handlungsfreiheit Eingeschränkten ausgelegt, sondern möglichst maximiert. Das ignoriert, daß das Leben komplexer ist als das Recht. Das will eine umfassende Regelung, aus Angst davor, daß eine differenzierende Regelung nicht alles abdeckt, was potentiell unerwünscht sein kann.

Im Strafrecht gibt es das Analogieverbot: Was nicht explizit geregelt ist, darf nicht über andere Straftatbestände abgedeckt werden. Hier macht man es sich einfach: »Ich erkenne Pornographie, wenn ich sie sehe.« G.H. konstruiert gerade den Bereich der Religionsausübung (speziell der muslimischen?) als einen potentiell gefährlichen. In der Tat ist dieser Bereich heikel, weil offenkundig verschiedene Grundsätze des legitimen Rechtsstaats aufeinanderprallen. Die Konsequenz daraus sollte aber keine umfassende Daumenregel sein, sondern ein peinlichst befolgtes Bestimmtheitsgebot. G.H. schließt seinen Kommentar so:

»Wehret den Anfängen« ist guter rechtsstaatlicher Grundsatz.

Allerdings.