»Deutschnationale Possen«

Jetzt ist sie also vorbei, die Fußballweltmeisterschaft. Nicht vorbei ist die neue Selbstverständlichkeit, mit der die deutsche Fahne überall herumgetragen wird. Ich gebe es ja zu: als ich in Berlin vor dem Reichstag stand und im Wind die großen Fahnen majestätisch wehten, fand ich das auch ziemlich erhebend.

Lächerlich dagegen, was jetzt passiert:

Ich hatte letzte Woche mit meinen Gruppenkindern vor, ein ziemlich großes Bild für die Gruppenraumwand zu malen. Als wir das geplant hatten, war das Finale noch in weiter Ferne und ich rechnete fest mit einem Ausscheiden Deutschlands. Frühzeitigst.

Nix war.

Also hat meine Gruppenkinder – allesamt Mädels, man höre und staune! – plötzlich der nationalistische Furor gepackt und ich habe ein prima 140 auf 110 großes Wandbild mit großer deutscher Fahne und einem euphorischen »Deutschland!!!« (sic!) im Gruppenraum liegen, das ich als aufgeklärter linksliberaler Kritiker eines neunzehntjahrhundrigen Nationalstolzes (cf. Guido »I’m proud to be a German« W.), gelinde gesagt, scheiße fand. Nun suche ich verzweifelt nach einer Möglichkeit, dieses Machwerk, das obendrein mit einem »Bro’sis«-Schriftzug geschmückt ist, zu entfernen, ohne meine Gruppenkinder zu düpieren und goutiere derweil Slimes Epos »Deutschland muß sterben«. Ich werde wohl anmerken, daß es eigentlich schade wäre, die »Mein schönstes Ferienerlebnis«-Plakate der Mittwochsgruppe abzuhängen.

Wo sonst noch überall schwarz-rot-gold prangt: darüber Schweigen.

Eins hab ich noch

Einer meiner ersten Artikel im Krokant:

Eins hab ich noch!

Eins ist eigentlich eine langweilige Zahl: völlig eindimensional, einseitig und vielleicht sogar einfältig. Und unpraktisch: auf einem Bein kann man nicht stehen, einmal ist keinmal und als Artikel ist sie allzu unbestimmt. Und trotzdem beginnen mit der Eins die natürlichen Zahlen.

Irgendwie ungerecht.

Oder?

Gerade deswegen ist die Eins nämlich auch ziemlich einzigartig und einmalig. Alle denken an das eine, wollen eins mit dem Universum werden, Allah ist einer und unteilbar, die Kirche die eine heilige und so weiter, ein Mann, ein Wort, ein Ring, sie zu knechten.

Die scheinbar unscheinbare Eins ist also gar nicht so klein und unbedeutend, wie sie scheint für uns Menschen als Individuen, Un-Teilbare, Einzigartige.

Platon legt in seinem »Symposion« dem Dichter Aristophanes die Geschichte von den ursprünglichen Menschen in den Mund: sie seien »Kugelmenschen« gewesen, Doppelwesen. Doch ihre Einheit, ihre Vollkommenheit erregte Zeus’ Neid, der sie daraufhin in zwei Teile teilte, die beständig einander suchen. So erklärt Platon den eros, das Zueinander-Hingezogen-Fühlen der Menschen, oder, abstrakter: den Wunsch nach Einheit.

Und Platon hat recht: Einheit ist ein besonders emotionaler Begriff, für jeden, außerhalb aller philosophischen Spitzfindigkeit.
1989 war ich sechs Jahre alt; den neunten November habe ich also wenig bewußt miterlebt. Und trotzdem: daß diese »Ein-heit« etwas ganz besonderes ist, habe ich gespürt. Ich wußte nichts von DDR, SED, sowjetischer Besatzungszone – aber daß da etwas ganz besonderes passierte, das habe ich gefühlt – da ging es nicht um Politik oder gar um Großdeutschland (wie es in allzu linken Kreisen kolportiert wird), da ging es um ein ganz grundsätzliches Gefühl.

Einige Jahre später war ich in Taizé, wo ich das erste mal wirklich Glauben spürte: junge Menschen von überall auf der Welt, und trotzdem war da etwas, das alle gemeinsam hatten: eine Lebensmitte.

Und deshalb finde ich die Eins einmalig.