Heute lagen drei Belegexemplare der »Berliner Republik« im Briefkasten. Eigentlich bereits für die letzte Ausgabe (doch dann kam überraschend das niederschmetternde SPD-Ergebnis bei der Bundestagswahl dazwischen) hatte ich einen Artikel über die Piratenpartei geschrieben, der nun unter dem Titel »Die digitale Opposition« erschienen ist.
Die Redaktion hat meinen Artikel massiv redigiert; aus meinem mäandernden hypotaktischen Stil wurde so – wie ich finde – ein fast unerträgliches Stakkato aus unverbunden aneinandergereihten Hauptsätzen – daher veröffentliche ich hier nochmal den Artikel in seiner Rohform.
Für Leser meines Blogs steht nicht viel neues drin; er faßt im wesentlichen die Artikel »Danke, Piratenpartei. Was bleibt?«, »Politische Geographie«, »Piraten, Gender und Pragmatik«, »Wahl-o-mat: Piraten als radikale Zentristen« und »Gekommen um zu bleiben? Piraten politikwissenschaftlich.« zusammen.
Anti-Parteien-Partei 2.0 – Was bleibt von der Piratenpartei?
Die Piratenpartei ist außerparlamentarische Oppositionsführerin: 845 904 Stimmen erreichte sie bei der Bundestagswahl 2009 – 2 %. Der Einzug in den Bundestag ist verpasst, aber ein Achtungserfolg erzielt. Die Piratenpartei ist nicht nur mit etwa 11 000 Mitgliedern die stärkste der nicht im Bundestag vertretenen deutschen Parteien, sondern auch die mit den meisten Stimmen.
Dem voraus ging eine Medienöffentlichkeit, die es aus den Diskussionszirkeln und sozialen Netzwerken online in die Zeitungen und Nachrichtensendungen offline schaffte. Drei Jahre nach ihrer Gründung sorgte das Zugangserschwerungsgesetz für einen unerwarteten Boom.
Das Zugangserschwerungsgesetz, im Netz unter dem Schlagwort »Zensursula« (aus »Zensur« und »Ursula von der Leyen«) diskutiert, hat eine enorme Politisierung vorher unpolitischer Nerds und Geeks erreicht, Menschen also, die bisher unter dem Verdacht standen, außer Codezeilen, Computerspielen und Pizzabringdiensten keine gesellschaftlichen Ambitionen zu haben.
Bereits die 2007 beschlossene sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung von Telefon-, E-Mail und Internet-Verbindungsdaten, führte im Netz zu einer großen Oppositionsbewegung: Als »AK Vorratsdatenspeicherung« schlossen sich Bürgerrechtsorganisationen und Einzelpersonen lose zusammen, um gegen das Gesetz vorzugehen. Erst das Internetsperrgesetz jedoch führte zum Boom der Piratenpartei: War die Vorratsdatenspeicherung noch ein klassischer Konflikt zwischen den Sicherheitsbedürfnissen von Innenpolitikern und dem Freiheitsverständnis von Bürgerrechtlern, so kam beim Internetsperrgesetz eine neue Dimension dazu: Zu offensichtlich der Populismus, mit dem unter dem Ziel des Kinderschutzes ein wirkungsloses Gesetz mit gefährlichen Nebenwirkungen vorangetrieben wurde: Die technisch wirkungslosen vorgeschlagenen Sperren binden Kräfte, die nicht zur Bekämpfung von Kinderpornographie eingesetzt werden können; bereits bestehende Sperrgesetze anderer Länder zeigten, dass enorme Kollateralschäden entstehen, indem legale Seiten versehentlich gesperrt wurden. Die Behauptung von BKA und Fachministern, dass Seiten im Ausland nicht von Deuschland aus gelöscht werden könnten, wurden von Netzaktivisten innerhalb kürzester Zeit widerlegt: Ihnen ist es gelungen, kinderpornographische Seiten abschalten zu lassen, die teilweise schon jahrelang auf den Sperrlisten anderer Staaten zu finden waren, allein durch eine Benachrichtigung der Provider, die die Infrastruktur für die kriminellen Kunden bereitstellen, die vorgehaltenen Inhalte aber nicht überprüfen.
Befeuert wurde die Kritik dadurch, dass die erfolgreiche E-Petition gegen das Gesetz, die über 134 000 Mitzeichner fand, keinen erkennbaren Einfluss auf die Entscheidungsfindung nahm, dass auf eine kleine Anfrage der FDP-Fraktion offenbar wurde, dass die von der Bundesregierung behaupteten Fakten, mit denen das Gesetz begründet wurde, gar nicht vorhanden waren und schließlich die von Ministerin von der Leyen erhobenen Vorwürfe gegen konkrete Staaten wie Indien, die sich als haltlos erwiesen. (Von der Leyen nannte Indien als Beispiel eines Staates, in dem Kinderpornographie nicht verboten sei; tatsächlich gibt es in Indien deshalb keine speziellen Gesetze gegen Kinderpornographie, da jede Form von Pornographie verboten ist. Bis heute konnte die damalige Familienministerin kein Land nennen, in dem Kinderpornographie legal ist.) Alle Vorurteile der Parteipolitik gegenüber waren so versammelt in einem Gesetzesvorhaben: Arroganz der Macht, Beratungsresistenz, Macht- vor Sachpolitik, Ideologie statt Pragmatik.
Die Piratenpartei hat sich den Protest geschickt zueigen gemacht. Mit der Popularität kam die Kritik auch aus dem Netz: Fragen nach der Abgrenzung nach rechts, dem Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit, der Verortung im politischen Spektrum und der Wertbasis wurden kontrovers diskutiert, verstärkt noch durch die partizipationsorientiere Diskussionskultur der Piratenpartei, die keine Redeverbote nach Parteiräson kennt und nicht in Hinterzimmern, sondern für alle einsehbar im Netz Diskussionen austrägt und sich damit angreifbar macht.
Undogmatische Pragmatiker, kompromisslose Freiheitsfreunde
Die Mitglieder der Piratenpartei sind Nerds: Hohes Bildungsniveau, natur- und ingenieurswissenschaftliche Hintergründe, geringer Frauenanteil, bisher kaum politische Betätigung. Daraus entsteht ein unbefangenes, begeistertes und undogmatisches Herangehen an Politik: Politik wird nicht als Aushandeln von wertbasierten Positionen verstanden, sondern als prinzipiell logisch lösbares Problem. Eine Einordnung ins traditionelle Parteienspektrum wird abgelehnt; man sei nicht links, nicht rechts.
Dieser Pragmatismus war bisher erfolgreich: Das Parteiprogramm beschränkt sich auf bürgerrechtliche Fragen mit Fokus auf die Netzpolitik, Urheber- und Patentrecht sowie Bildungspolitik. Themen wie Sozial- und Gesundheitspolitik, Außen- und Wirtschaftspolitik werden parteiintern kontrovers diskutiert, ohne dass es eine offizielle Grundposition dazu gibt.
Eine Zerreißprobe durch eine Ausweitung des Programms ist damit vorhersehbar: Eine unbestimmte Begeisterung für Freiheit ist die Klammer, die die Partei zusammenhält. In der Partei gibt es Lebensschützer, Männerrechtler, Kommunisten, Libertäre, für die jeweils der Begriff »Freiheit« zentral ist, jedoch in unterschiedlichster Auslegung. Der für die Piratenpartei zentrale Begriff bleibt jedoch auch in den offiziellen Dokumenten unbestimmt, eine Unbestimmtheit, die sowohl die pragmatische und ideologiefreie bis ideologiefeindliche Mehrheit anspricht wie ideologisch Festgelegte, die keine Heimat in den bestehenden Parteien finden. (Prominentere Neumitglieder sind ebenso der sich als »Männerrechtler« verstehende Publizist Arne Hoffmann wie die ehemalige grüne Bundesvorsitzende und Verteidigungsexpertin Angelika Beer.) Jede Bestimmung des Freiheitsbegriffs wird daher einzelne Mitgliedergruppen verprellen.
Der unbestimmte Freiheitsbegriff, der zudem stark um eine möglichst umfassende Meinungsfreiheit kreist, macht die Piratenpartei auch für Geschichtsrevisionisten und Holocaustleugner interessant, auch ein Ressentiment gegen etablierte Parteien kommt Rechten zupass. Dennoch kann die Piratenpartei als ganzes – trotz gelegentlicher Vereinnahmungsversuche – nicht unter Rechtsverdacht gestellt werden. Umfragen verorten Parteimitglieder eher im linksliberalen Bereich. Eine breitere Programmdiskussion dürfte die Piratenpartei damit unattraktiv für Rechte machen.
Nicht links, nicht rechts: Piraten sind radikale Zentristen
Die Versuchung liegt nahe, die Piraten vorschnell als linke (die Forderung nach Vergesellschaftung von Wissen) oder liberale Bewegung (die Betonung von Freiheit als zentralem Wert) einzuordnen. Die größten Gemeinsamkeiten bestehen mit den Grünen, die nicht nur das bürgerrechtliche Anliegen der Piratenpartei teilen (wie auch die FDP), sondern auch eine Reform von Urheber- und Patentrecht mit derselben Stoßrichtung wie die Piratenpartei anstreben (im Gegensatz zur FDP).
Damit ist aber noch keine Festlegung auf eine linksliberale Ausrichtung gemacht. Erhellend ist die Betrachtung der Position der Partei im Wahl-o-mat, die bei den vom Programm nicht abgedeckten Thesen auf Mehrheitsentscheidungen der Bundestagskandidaten basiert. Bei der Durchsicht der Begründungen wird augenscheinlich, dass die Piraten keiner politischen Richtung eindeutig zuzuordnen sind. Es gibt linke Positionen (gegen Unternehmenssteuersenkung, für gebührenfreies Erststudium) und liberale (keine gesetzliche Regelung von Managergehältern, keine dauerhafte staatliche Beteiligung an Banken).
Auffallend ist, dass trotz der nicht eindeutigen Verortbarkeit sich eine eindeutige Tendenz in den Begründungen abzeichnet: Die Orientierung an einer möglichst ideologiefreien Beurteilung der Sachlage durch gesunden Menschenverstand.
Verbunden mit einer dezidierten Orientierung an politischer Partizipation, einer nicht-ideologischen Herangehensweise an den Sozialstaat und einer Orientierung an der Selbstverwirklichung des Individuums im Gegensatz zu einer Orientierung an Ungleichheiten (exemplarisch daran zu erkennen, dass Bildung das zweite offizielle Thema der Partei ist, aber auch an der Beantwortung der These zu Frauenquoten, die abgelehnt werden, da man sie als Diskriminierung auffasst) erfüllen die Piraten erstaunlich viele Kriterien, die Anthony Giddens als Merkmale einer zentristischen Politik benennt.
Die Umwandlung von oben, die Schröder und Blair ihren Parteien vorgaben, hin zu pragmatischer und ideologiefreier Politik, hin zu einem »Third way« zwischen Kapitalismus und Sozialismus, scheiterte an der dafür zu klassisch sozialdemokratischen Basis. Was im Schröder-Blair-Papier skizziert wurde und in der Sozialdemokratie scheitern musste, zeichnet die Piratenpartei aus und macht sie erfolgreich – nicht zuletzt, weil ihre Impulse von unten kommen. Diesem kurzfristigen Erfolg steht freilich die langfristige Notwendigkeit einer breiteren Positionierung entgegen. Das Bewusstsein dafür, dass Politik nicht mit szientistischen und damit eindeutig entscheidbar »richtigen« Positionen zu tun hat, sondern letzten Endes auf Wertentscheidungen basiert, fehlt weiten Teilen der Piratenpartei derzeit noch. Ein erster Schritt in Richtung eines Vollprogramms müsste eine Bestimmung des Freiheitsbegriffs sein, der (zusammen mit dem pragmatischen Ansatz) den normativen Kern des Parteiprogramms ausmacht. Damit ließe sich auch Vereinnahmungsversuchen etwa von rechts besser begegnen.
Was bleibt?
Die Piratenpartei hatte bei ihrer ersten Bundestagswahl ein besseres Ergebnis als die Grünen 1980. Beide Parteien sind als parteipolitischer Ausdruck gesellschaftlicher Bewegungen entstanden, die Politik neu gestalten wollen. Die Grünen als Sammelbecken von Umweltschützern, Friedensbewegung, Frauenbewegung und Studentenbewegung waren von Anfang an thematisch breiter aufgestellt. Die Grünen haben es geschafft, die Konfliktlinie, die sich zwischen klassischen materiellen und postmateriellen Werten gebildet hatte, erfolgreich zu besetzen und sich so dauerhaft zu etablieren.
Ob die Piratenpartei eine vergleichbare Konfliktlinie besetzen kann, ist noch offen. Der naheliegende Konflikt zwischen innerer Sicherheit und Bürgerrechten wird im deutschen Parteienspektrum bereits von Grünen und FDP abgedeckt. Bereits jetzt versuchen die Grünen, verstärkt auch netzpolitische Themen zu besetzen, ähnliche Bewegungen sind in allen anderen Parteien zu finden. Die Grünen, die im Gegensatz zur FDP nicht nur bei den Bürgerrechten, sondern auch im Bereich Bildungspolitik und Urheber- und Patentrecht sehr piratenaffine Positionen vertreten, sind dabei die größte Gefahr.
Besteht der Konflikt nicht aus Freiheit vs. Sicherheit, sondern in Form einer Generationenfrage, kann die Partei nicht von Dauer sein: Das Thema kommt mit Verspätung auch in den anderen Parteien an, die Vertreter des »altmodischen« Lebensgefühls werden von ihren Nachfolgern mit dem moderneren Lebensgefühl verdrängt. In der Tat wird oft von einem Paradigmenwechsel gesprochen: Hier die Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, die Digital natives, dort die Generation, die sich das Netz erst erarbeiten mussten – Digital immigrants. (So erklärt sich auch das Unverständnis, das der Piratenpartei aus den Lehrstühlen entgegenschlägt, während die verständigen politikwissenschaftlichen Analysen aus dem akademischen Mittelbau und von ambitionierten Laien in Blogs stammen.) Aus dieser Perspektive droht der Piratenpartei Gefahr von Parteien mit jüngerer Mitgliederstruktur: In der SPD und vor allem in der FDP steht ein Generationenwechsel an, der eine Generation überspringt: Der FDP fehlt durch den Kursschwenk 1982 eine mittlere Generation an potentiellen Führungskräften, in geringerem Maße der SPD durch die Gründung der Grünen zur gleichen Zeit. In beiden Parteien sind gerade in der zweiten und dritten Reihe viele junge Politiker zu finden, die ähnlich im Netz verwurzelt sind und selbstverständlich mit modernen Kommunikationsmedien umgehen wie die Klientel der Piratenpartei; sowohl in der FDP (in ihrer Reformkommission) wie in der SPD (in der Rhetorik von Sigmar Gabriels einhellig gelobter Rede auf dem Dresdener Parteitag wie in der partizipativen Gestaltung der Vorsitzendenwahlen im Landesverband Baden-Württemberg) wird verstärkt ein Augenmerk gelegt auf Partizipation.
Eine Chance für die Partei besteht paradoxerweise gerade in der Parteienverdrossenheit: Es gibt ein Bedürfnis nach einer pragmatischen, ideologiefreien und partizipativen Politik. Ohne ein Vollprogramm kann die Piratenpartei ihr volles Wählerpotential aber nicht realisieren. Damit steht für die Zukunft nicht nur eine Ausweitung der Positionen, sondern auch eine strukturelle Konsolidierung an. Die vielen Neumitglieder müssen eingebunden, inhaltliche Richtungsentscheidungen getroffen werden, aber auch eine Verwurzelung in der Kommunal- und Landespolitik durch wenig prestigeträchtige Alltagspolitik steht an. Erfahrene Kommunalpolitiker fehlen, während es keinen Mangel an hochmotivierten, aber politisch unerfahrenen Neumitgliedern gibt. Es gilt jetzt, diese bisher Politik- und Parteiverdrossenen in eine demokratische und freiheitliche Anti-Parteien-Partei einzubinden und dauerhaft zu motivieren. Nach der Bundestagswahl ist es auffallend still um die Piratenpartei; das ist zum Teil der nachlassenden Aufmerksamkeit nach dem Scheitern an der 5-%-Hürde zuzuschreiben, liegt aber auch daran, dass die Partei auch im Netz in den Diskursen über Bürgerrechte und Datenschutz (etwa zum SWIFT-Abkommen oder zum Arbeitnehmerdatenschutz) nicht meinungsbildend wirkt. Wie vor dem Erfolg der Piratenpartei wird der Diskurs vor allem bestimmt von Mitgliedern des Chaos-Computer-Clubs und dem führenden Blog netzpolitik.org.
Impulse aus der Piratenpartei
Selbst wenn ein dauerhafter Erfolg der Piratenpartei ausbleibt: Bereits jetzt kann sich die Piratenpartei große Erfolge zuschreiben.
Sie hat neue Partizipationsformen aufgezeigt: Keine langwierigen Ochsentouren vom Ortsverband in die Hinterzimmer der Programmkommissionen und Vorstände, stattdessen gibt es transparente Internetdiskussionsforen. Jeder kann sich sofort einbringen, jeder zählt, und mangels Flügeln und Funktionärscliquen zählt nur das Argument. Was die anderen Parteien nur diskutieren und planen, haben die Piraten umgesetzt. Damit hat die Partei es geschafft, erstaunlich viele Menschen dafür zu begeistern, sich politisch zu engagieren.
Auch im Wahlkampf setzte die Piratenpartei neue Standards. Die kleine Partei hat einen professionellen Graswurzelwahlkampf geführt: Keine zentralisierten, graphisch aufwendigen, videolastigen Kampagnenseiten von oben, stattdessen »einfache« Leute, die Kleinigkeiten zum Wahlkampf beigetragen haben: hier ein Beitrag in einem Forum, ein Piraten-Banner, dort ein Blog-Artikel, ein T-Shirt, dazu die virtuose Beherrschung der neuen sozialen Online-Netzwerke.
Die Versuchung ist groß, die Piratenpartei auf ihre populären Themen zu reduzieren und die Stärken der Struktur und Organisation zu übersehen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Piratenpartei bringen zwar ein gewisses Wählerpotential mit sich, das die kleineren Parteien bereits jetzt teilweise abschöpfen. Die Methoden zur politischen Partizipation jedoch sind das eigentlich Neue: Direkte Demokratie, Durchlässigkeit der Strukturen, vielfältige, gestufte Mitwirkungsformen, flache Hierarchien. Die größte Chance, von der Piratenpartei zu lernen, ist gleichzeitig das, was von den etablierten Parteien den größten Schwenk erfordert: Die Selbstentmachtung der Gremien und Funktionäre zugunsten eines Vertrauens in die Basis. Die Umwandlung von Funktionärsparteien in Volks-Parteien.
Den Wahl-O-Mat mit “(keine gesetzliche Regelung von Managergehältern, keine dauerhafte staatliche Beteiligung an Banken).” zu zitieren ist ein wenig mutig… kann mir nicht vorstellen das die meisten Piraten das so unterschreiben würden.
Das ist eine Aussage, die die Piratenpartei nach außen im Wahlkampf so vertreten hat – wie sie das im Innenverhältnis mit sich ausmacht, ist eine andere Frage. Natürlich sind das keine im Rahmen einer breiten Willensbildung entstandenen Positionen (die Darstellung von Vize Andi Popp zur Entstehung der Thesen kenne ich); für meine Zwecke reicht das aber: Interessant ist weniger, wie die konkreten Positionierung zu einzelnen Thesen aussieht, sondern wie die Position begründet wird. (Auch wenn es ein Hinweis ist, daß aus den Antworten keine einheitliche Einordnung in klassische politische Lager möglich ist.) Ein wenig ausführlicher habe ich mich damit in »Wahl-o-mat: Piraten als radikale Zentristen« auseinandergesetzt.
Du schreibst:
“Hohes Bildungsniveau, natur- und ingenieurswissenschaftliche Hintergründe, geringer Frauenanteil, bisher kaum politische Betätigung. Daraus entsteht ein unbefangenes, begeistertes und undogmatisches Herangehen an Politik:”
(Vorab und nebenbei und mit einem leichtem Augenzwinkern: geringer Frauenanteil führt also auch zu einem unbefangenem etc Herangehen an Politik?)
Leider kann diese, freilich natürlich etwas plakativ umrissene Gruppe, eines kaum: wirklich verträglich mit anderen Menschen, gar anderer Lebenserfahrungen und Meinung habend, gleichberechtigt kommunizieren.
Man mag die neuen technischen Kommunikationswerkzeuge fest im Griff haben, die sozialen real-lebendigen Werkzeuge, so habe ich den Eindruck gewonnen, könnten doch noch etwas nach geschliffen werden.
Man kann fast beliebige Grundsatzdiskussionen aus den Blogskommentarbäumen oder “öffentliche Briefbereich” der Blogs nehmen und möchte sich fragen: so sollen bei grundlegenden Fragen aufeinander eingegangen werden? In diesem Ton? (Man kann ja auch mal schauen, wie die Netz- und auch zum nicht kleinen Teil Piraten-afinine sich im Wikipediastreit bei Grundsatzfragen gegenseitig verhält. )
In dieser “Aktzeptanz” (hust) der anderen Basis, des Wertes des anderen Gesprächspartners soll unsere Gesellschaft geführt werden? So darf man sich das zukünftige miteinander vorstellen?
Da gäbe es noch etwas Lernbedarf, denke ich. Sonst bleibt die Partei für viele alleine deswegen unwählbar, weil es keine wirkliche gleichberechtigte Kommunikation “zu ihr” gibt. Somit kein Zugang.
Die Formulierung ist in der Tat unglücklich; ich nehme viele Piraten so wie Du war. (Und habe das überspitzt auch selber schon so geschrieben in Heilige Heiseforenkrieger.) Wenn ich aber anderswo die Diskussionsspalten lese, dann glaube ich nicht, daß dieser unsägliche Umgang ein Privileg der Piraten ist – es scheint mir eher dem Medium geschuldet. Schnell Unverschämtheiten als Kommentar herauszurotzen geht schneller als im eigenen Blog zu argumentieren.
Den (angeblichen oder tatsächlichen) Piraten in den Kommentarspalten stehen viele Piraten gegenüber, die in eigenen Blogs differenziert und auf hohem Niveau diskutieren und argumentieren. Blogbeiträge scheinen mir auch eher geeignet als Kommentare, um den politischen Diskurs voranzutreiben und daran die Diskursfähigkeit der Klientel zu beurteilen.
(Ich bitte die späte Antwort zu entschuldigen, nach Weihnachten habe ich im Blog ein wenig pausiert und nur das nötigste gemacht.)