Staat, Kirchen, Rechtsform?

In Baden-Württemberg sollen die Zeugen Jehovas nach Willen der Landesregierung nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Privilegien einer offiziell anerkannten und verfaßten Religionsgemeinschaft bekommen. Daß sie damit nicht steuerlich bessergestellt werden, daß sie keine Rundfunk-Sendezeit eingeräumt bekommen, daß sie nicht in Rundfunkräte kommen, ist mir durchaus sympathisch – Sympathie ist aber im Verhältnis zum Staat keine gute Richtschnur.

Die Begründung der Landesregierung jedenfalls zeigt, daß das Konstrukt KdÖR im Staatskirchenrecht (und die damit verbundenen Privilegien) als Organisationsform grundsätzlich problematisch ist.

Voraussetzung für die Gewährung des Körperschaftsstatus ist (explizit geregelt, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V WRV) ihre Dauerhaftigkeit und (implizit abgeleitet) Rechtstreue. (Klar: Der Staat ist ans Recht gebunden, also kann er nur im Rahmen dieser Rechtsbindung hoheitliche Privilegien verleihen.)

Damit ist bereits das erste Problem da: In Religionen, die im allgemeinen eine transzendente Wertquelle kennen, jedenfalls nicht den Staat oder seine fundamentalen Rechtsgrundsätze als letzte oder einzige Fundamentalnorm anerkennen, ist ein Konflikt bereits angelegt. (Ein Konflikt, der bei den christlichen Kirchen insofern gemildert – aber nicht aufgehoben! – ist, als daß die Würde als vorpositive staatliche Fundamentalnorm als säkulare Formulierung der christlichen moralischen Fundamentalnorm Gottesebenbildlichkeit aufgefaßt werden kann.)

Religionen, die mit Böckenförde zu den Voraussetzungen gehören, auf die ein freiheitlicher Staat angewiesen ist, ohne sie selbst garantieren zu können, sind ein paradoxes Zusammenspiel von systemstabilisierender und systemtranszendierender Ideologie: Einerseits sorgen sie für sozialen Zusammenhalt, bilden bürgerschaftliche Netzwerke, sind eine Wertquelle, andererseits erkennen sie den Staat gerade nicht als höchste Autorität an. Paul Nolte nennt das (in »Religion und Bürgergesellschaft«) »Dissens- und Dissidenzpotential der Religion«. Biblisch: Einerseits gibt es keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt, andererseits muß man Gott mehr gehorchen als dem Menschen.

Ziviler Ungehorsam und besonders Kirchenasyl, nicht etwa die pauschale Weigerung der Zeugen Jehovas, Wehrdienst zu leisten oder Hymnen zu singen, sind die prominentesten Beispiele. Und solange das kirchliche Handeln zumeist (wenigstens mittelbar) per Kirchensteuer finanziert ist, ist die Abgrenzung, was die Kirchen nun quasi-hoheitlich tun (und wo es eine besondere Pflicht der Rechtstreue gibt) und was nicht, so einfach nicht zu treffen.

Den Zeugen Jehovas wird vorgeworfen, sie lehnten eine Beteiligung am Staat ab, etwa indem sie nicht an Wahlen teilnehmen. (Loyalität zum Staat ist allerdings gerade keine Voraussetzung für die Anerkennung als Körperschaft, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat.) Wie will man hier die Grenze ziehen – das katholische Kirchenrecht verbietet Klerikern die Ausübung von öffentlichen Ämtern, die mit der Ausübung weltlicher Gewalt verbunden sind (can. 284 § 3) und sogar die »aktive Mitarbeit« in Parteien (can. 287 § 2). Der Unterschied zur Fundamentalopposition der Zeugen Jehova scheint mir hier eher ein quantitativer als ein qualitativer zu sein. (Natürlich gibt es qualitative Unterschiede, sehen die Zeugen Jehovas doch den Staat als »Bestandteil der Welt Satans«; völlig zurecht stellt das BVerfG allerdings auch fest, daß das den Staat nichts anzugehen habe.) Sicher: Das eine ist eine wohlbegründete Regelung, die kirchlicherseits die Trennung von Kirche und Staat unterstützt, das andere Fundamentalopposition – wie aber soll rechtssicher in Grenzfällen entschieden werden, ohne inhaltliche (nicht-neutrale) Wertungen? Und wo ist die Grenze?

Auch die anderen Kritikpunkte der Landesregierung sind zumindest schwierig. (Das angeführte Gutachten scheint noch nicht öffentlich zu sein.) Benannt werden das Kontaktverbot mit Aussteigenden, das sowohl das Grundrecht auf Achtung der Familie und der Ehe wie auch die Religionsfreiheit beschneide, sowie die Ablehnung von Bluttransfusionen aus religiösen Gründen, da damit Minderjährige gefährdet werden.

Ein zentrales Merkmal von sozialem Kapital ist, daß es nach innen integriert und nach außen ausschließt. In diesem Fall besonders kraß; nicht eingegangen wird darauf, inwiefern das nicht auch in traditionell christlichen Dörfern der Fall ist. Nicht eingegangen wird darauf, inwiefern die Bewertung der Ehen von wiederverheirateten Geschiedenen durch die Kirche ebenfalls die Rechte aus Art. 6 GG beschneidet. Religiöse Regeln, die das Zusammenleben mit Andersgläubigen regeln, gibt es in vielen Religionen; im katholischen Christentum etwa, wenn es um Eheschließungen geht. Informelle, gesellschaftliche Regeln, die das Zusammenleben mit anderen regeln, gibt es in jeder Gemeinschaft, und immer erzeugen sie Ausschlüsse, die ein Staat nicht selbst herbeiführen dürfte.

Auch das Argument der heute so irrational scheinenden Ablehnung von Bluttransfusionen (über Bande gespielt, indem auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit von Kindern abgehoben wird) kommt bei etablierten Religionen in anderen Formen zum Tragen. Katholischerseits könnte eine identische Situation auftreten, wenn es um Heilmethoden geht, die auf verbrauchender Embryonenforschung basieren. Jüdischer- und muslimischerseits könnten (hier ausdrücklich Konjunktiv, bei diesem Thema muß ich mich auf zusammengegoogelte Informationen verlassen) religiöse Reinheitsgebote und unkoschere, nicht-halale Medikamente und Heilmethoden in Konflikt geraten.

Das ist kein Plädoyer für eine Relativierung der doch großen Unterschiede – gerade unter den Vorzeichen einer weitgehend säkularisierten Volkskirche und im Gegensatz dazu einer von dieser Welt abgeschotteten Sekte. Es zeigt aber die Problematik eines quasi-hoheitlichen Status für Religionsgemeinschaften auf. Indem ihnen ein quasi-hoheitlicher Status zuerkannt wird, wird rechtlich die Analogie zum Staat gezogen; dabei ist die weit passendere Analogie doch die zu anderen gesellschaftlichen Akteuren: Religionsgemeinschaften nicht als Ausfluß hoheitlicher Gewalt, sondern als Ausfluß gesellschaftlicher freiwilliger Assoziation. (Ausführlicher dazu in meinem Artikel »Befriedung durch Neutralität«.) Religionen (und die meisten gesellschaftlichen Gruppen), nicht nur die Zeugen Jehovas, können den grundrechtlichen Anforderungen an eine staatliche Hoheit nie gerecht werden. Konsequent wäre es also, auf eine hoheitliche Organisationsform zu verzichten. Institutionelle und und kollektive Religionsfreiheit funktioniert bereits jetzt auch für Religionsgemeinschaften, die nicht als KdÖR organisiert sind.

6 Gedanken zu „Staat, Kirchen, Rechtsform?“

  1. Dass Religionen notwendige Staatsvoraussetzung sind, weil sie sozialen Zusammenhalt stiften ist aber mehr so der Wunschgedanke der Religionsverwalter, oder? Wieso sollte ein freiheitlicher Staat nicht ohne Religion funktionieren können?

    1. Böckenförde bezieht sich auf diese Frage; er formuliert allerdings religionsneutral. Daß Religionen eine notwendige Voraussetzung seien, haben weder ich noch Böckenförde geschrieben. Religion ist eine mögliche Quelle der »Voraussetzungen, die [der Staat] selbst nicht garantieren kann«; natürlich sind andere denkbar und existent.

    1. Das Problem besteht ja dennoch: Joseph Ratzingers Theologie geht etwa – ausgehend von seinem Wahrheitsbegriff, der nicht ohne Gott auskommt – davon aus, daß Religion tatsächlich eine notwendige Bedingung für ein gutes Gemeinwesen ist; hat man ja gerade wieder bei seinem Englandbesuch gehört, wo er die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts als Folge des Atheismus interpretiert hat.

      Erschwerend kommt dazu, daß Böckenförde den zitierten Text gerade mit Katholiken im Auge geschrieben hat: Es ging Böckenförde darum, die Katholiken mit dem freiheitlichen säkularen Staat zu versöhnen; die Formulierung ist also nicht dazu gewählt, explizit auch säkulare Wertequellen zu benennen, und so wird der Sozialdemokrat Böckenförde paradoxerweise immer wieder gerade als Gewährsmann der Konservativen (die in der Tat die Notwendigkeit von Religion postulieren) verwendet.

  2. Viel interessanter als die Zeugen Jehovas ist ja in diesem Fall der Islam, weil der einfach momentan eine deutlich größere gesellschaftliche Relevanz besitzt. Wenn man nun z.B. Islamunterricht an Schulen einführen möchte, würde das doch meines Wissens voraussetzen, daß es auch eine entsprechende Anerkennung als KdÖR gibt. Wie würdest Du diesen Fall bewerten?

    1. Ja, daran zeigt sich eine andere Problematik: Das deutsche Staatskirchenrecht ist im Kern ein christliches Staatskirchenrecht: Die Organisationsform »Kirche« ist ein christliches Konzept, das dem Islam (und vielen anderen Religionen) erstmal fremd ist, und es ist ein europäisches Konzept, das in der Tradition der protestantischen Landes- und Staatskirchen und der katholischen Kirche als eigenständige souveräne Einheit steht. Kirche als soziologische Einheit wird auch stark vereinsartig aufgefaßt. (Also eine klare Organisation mit klarer Mitgliedschaft und klarer Entscheidungsstruktur.) Für christliche Kirchen paßt die Organisationsform KdÖR; für andere Religionen und besonders den Islam nicht. (Überhaupt: Was ist »der« Islam und welcher Islam – schiitisch, sunnitisch, ibaditsch, welche Schule davon jeweils, und sind Aleviten überhaupt Moslems? – soll im islamischen Religionsunterricht gelehrt werden? Mit welcher religiösen Autorität kann ein organisatorischer Dachverband die Ausgestaltung des Religionsunterrichts bestimmen?)

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