Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie

Mittlerweile glaube ich zu verstehen (nachdem es mir lange wie Nico Lumma ging), warum Stuttgart 21 (im Vergleich mit Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Zukunft der Atomkraft, Bildung und Wirtschaftskrise und so weiter nun wirklich nicht übermäßig wichtig) so polarisiert: Es geht um Ohnmacht. Es geht um die Ohnmacht, einem politischen Prozeß ausgeliefert zu sein, der scheinbar nicht zu beeinflussen ist.

Die Argumentation der Befürworter läßt sich kaum leugnen: Über mehrere Ebenen wurde das Projekt nach demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren beschlossen, verschiedene Wahlen im Laufe des Entscheidungsprozeß haben die befürwortenden Gruppen bestätigt, die Beschlüsse wurden vor Gericht überprüft. Insofern ist Stuttgart 21 durchaus hervorragend legitimiert, mehr als die meisten anderen politischen Projekte.

Und dennoch: So sauber legitimiert es ist – es zeigt die Schwächen eines rein repräsentativdemokratischen Systems auf. Daß die Proteste nun durch groteske Polizeigewaltexzesse niedergeschlagen werden (darf ein Rechtsstaat die Erblindung von Menschen in Kauf nehmen, nur um die zeitnahe Umsetzung eines Bauvorhabens durchzusetzen?), ist nicht die Selbstbehauptung des repräsentativdemokratischen Rechtsstaats gegen undemokratische schlechte Verlierer. Es ist eine fast schon autistisch zu nennende an Nabelschau grenzende Reaktion eines selbstgenügsamen politischen Apparats, der sturheil nur seinen Prozeduren zu folgen vermag, ohne sich von Kontexten beeinflussen zu lassen.

Verfahren, die demokratisch vereinbart werden, sind die beste Möglichkeit, um verschiedene widerstreitende Interessen miteinander in Einklang zu bringen – auch wenn in der Sache kein Konsens zu erzielen ist, so ist doch der Weg dorthin konsensfähig. Zunächst treffen daher Aussagen wie man sie gerade hört durchaus zu:

»In einem Rechtsstaat muss man darauf achten, dass Entscheidungen nicht nur getroffen, sondern auch umgesetzt werden.« (Peter Hauk)

»Wenn sich die Gegner des Vorhabens politisch nicht durchsetzen konnten, müssen sie das akzeptieren.« (Konrad Freiberg)

Eine in eine ähnliche Richtung zielende Gegenüberstellung hört man immer wieder, von Angela Merkel, zuletzt von Heribert Rech im ZDF-Interview (ab Minute 3.16; Transkription):

Die Frage ist, ob wir uns an demokratisch legitimierte Beschlüsse halten oder ob wir künftig per Umfragen regieren.

Das ist ein falsches Dilemma. Die Frage ist nicht »Demokratie oder Umfrage- (=Pöbel-)Herrschaft«, sondern: Wie wird eine Demokratie so ausgestaltet, daß sie ihrer Aufgabe gerecht wird: Das Aushandeln der Bedingungen der Freiheit ermöglichen. Demokratische Verfahren entheben nicht davon, weitere Rückkopplungsmechanismen zu berücksichtigen. Demokratische Verfahren müssen ständig überprüft werden, ob sie noch tauglich sind; sie sind immer nur Werkzeug, nicht Selbstzweck, müssen also in die jeweilige Gesellschaft passen.

In Konflikten wie dem um Stuttgart 21 zeigt sich eine Krise des repräsentativ-demokratischen Systems. Es geht nicht darum, ob die Demonstrierenden Recht haben oder sie wenigstens eine gesellschaftliche Mehrheit abbilden – es ist denkbar, daß tatsächlich nur eine wortmächtige Minderheit demonstriert. Es geht darum, daß es in einer pluralen, zunehmend differenzierteren Gesellschaft nicht genügt, die reichlich binäre Entscheidung zwischen einer Handvoll Parteien alle paar Jahre als hinreichende Legitimierung für alles politische Handeln dazwischen anzusehen und jeden Verweis auf Stimmungen in der Gesellschaft mit dem Mantra »Demokratie, nicht Demoskopie« einfach abzutun.

Repräsentative Demokratie ist eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts: Organisation unter den Bedingungen langsamer Kommunikation, langwieriger Reisen und damit der Unmöglichkeit, sich mal eben oben einzumischen. Dank homogenerer Milieus – das katholische, das sozialdemokratische, das bürgerliche – und damit homogeneren Interessenslagen funktionierte unter diesen Bedingungen eine repräsentative Interessens-Aggregation gut genug. (Freilich gibt es damit von Anfang an Probleme: Daß man sich Partizipation zeitlich und finanziell leisten können muß, daß die ohnehin bei jeder Organisation vorhandenen Oligarchisierungstendenzen maximiert werden, daß der Einfluß des einzelnen Basismitglieds sehr gering und hochgradig indirekt ist.)

Unter den Bedingungen günstigen und schnellen Reisens und quasi kostenloser Kommunikation einerseits und der Auflösung homogener Milieus andererseits wächst das Partizipationsbedürfnis, und damit werden klassisch strukturierte Großorganisationen zu schwerfällig und unattraktiv. Ein Problem, dem sich alle Parteien, Gewerkschaften, Verbände gegenübersehen – und dennoch ist die Macht institutionell bei derartigen Großorganisationen, die notwendig ein ganzes Bündel an politischen Positionen abdecken. S21 ist nur ein Teil eines Bündels; wer eine Partei in Baden-Württemberg wählt, stimmt damit nicht notwendig für oder gegen S21. Das einzige daraus ableitbare: die Position zu S21 ist (jedenfalls zum Zeitpunkt der Wahl) kein absolut untragbarer Teil des Programms. Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto größer werden die Spannungen, weil eine begrenzte Anzahl von Parteien nur eine begrenzte Anzahl an Positionsbündeln zur Verfügung stellen kann – die Folge ist ein Ohnmachtsgefühl: Ich als einzelner kann doch eh nichts dagegen tun.

Politisches Engagement wechselt dadurch seinen Charakter und verlagert sich Weg von den Großorganisationen: Im schlechtesten Fall kommt es zur Wahlenthaltung, im auch nicht viel besseren Fall zur Wahl simplifizierender, populistischer Protestparteien, im besten zur Nutzung der ganzen Bandbreite demokratischer Instrumente wie der Mitarbeit in Interessenverbänden, Demonstrationen und Petitionen. (Gerade das Online-Petitionssystem des Bundestags zeigt durch die Kleinteiligkeit der dort eingereichten Petitionen, die es eher wie ein miserabel programmiertes Bundes-Liquid-Feedback-System aussehen lassen, den Bedarf und den Willen zur Partizipation.) Das alles ist aber unbefriedigend: Demonstrationen, Protestparteien, Petitionen bewirken manchmal Agenda setting, sind aber nicht Politik in dem Sinn, daß damit auf die »Allokation von Werten« (David Easton) Einfluß genommen werden kann – und damit läuft das politische System Gefahr, daß es der zweiten von Easton benannten Funktion verlustig geht: Daß die (rein repräsentativdemokratisch gefällte) Entscheidung nicht als bindend anerkannt wird. (Genau das passiert gerade bei Stuttgart 21, und ähnliches ließe sich etwa anhand der Islam-Kritik-Debatte diskutieren.)

Seit Jahrzehten wird das in der politikwissenschaftlichen Literatur diskutiert (exemplarisch in bezug auf Parteiorganisation hier Artikel von Andreas Kießling und Stefan Marschall), mit einem kleinen euphorischen Höhepunkt um die Jahrtausendwende, als das Internet als Allheilmittel gesehen wurde (und selbst die CDU eine Art virtuellen Parteitag veranstaltet hat).

Eine echte Alternative (oder jedenfalls die Umsetzung davon) ist nicht in Sicht. (Die Piratenpartei versucht genau das umzusetzen: Ein weitgehender Verzicht auf repräsentative Demokratie, kein Delegiertensystem, Vorstände werden eher basisdemokratisch als Verwaltungs- und Beschlußumsetzungsgremien verstanden. So gut das gemeint ist, führt das allerdings allzu oft zu organisatorischem Chaos. Liquid Feedback scheint mir momentan das einzige neue Organisationsprinzip mit Potential zu sein.)

Ansätze gibt es dennoch – Volksentscheide etwa oder Mediationsverfahren (wie sie etwa beim Frankfurter Flughafenausbau benutzt wurden). Kurz: Es braucht Mechanismen, wie gesellschaftliche Debatten in politische Entscheidungen übersetzt werden, mit spürbaren Rückkopplungen. Sonst wird aus Ohnmacht Wut, und das schönste repräsentative System nützt auch nichts mehr.

132 Gedanken zu „Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie“

    1. Und wer kümmert sich dann um all die Themen, die nicht sexy sind? So verbesserungsfähig unser politisches System auch ist – eine parlamentarische Demokratie stellt doch sicher, daß es auch demokratisch legitimierte Politiker gibt, die sich mit dem langweiligen, aber doch wichtigen Kleinklein alltäglicher politischer Arbeit befassen, und das nicht von einer bloß ernannten Verwaltung ausgehandelt wird.

      1. Um nur eins dazu zu sagen, lass dich nicht blenden von der angeblichen wichtigkeit einiger „entscheider“. Wenn es dich angeht, wenn du betroffen bist, egal in welchem kontext, möchtest du nicht dein natürliches recht als mündiger bürger wahrnehmen? und wenns dich nicht angeht, wenn andere betroffen sind, wenn du kein interesse hast, dann solln die sich den kopf zerbrechen die es angeht. ist dir die pendlerpauschale so egal wie mir und fragst dich wies um den welthunger steht?

    2. Herstellung echter demokratischer Verhältnisse:

      Sich an Stammtischen oder in Foren über die Unfähigkeit der Politik auszulassen, deren lobbygesteuerte Gesetzgebung zu kritisieren, oder gar die scheinbar legalen Gesetzesmachwerke anzuprangern, mit deren Hilfe verbriefte Grundrechte ausgehebelt werden, ist nicht genug.

      Da erscheint es sinnvoll über gelebte und angewandte Demokratie etwas länger nachzudenken.

      Dazu möchte ich zunächst einige Ursachen benennen, die dazu führen, daß der Bürger, sobald er seine Stimme abgegeben hat, DIESE verloren hat!

      Er hat einen, ihm persönlich unbekannten Repräsentanten gewählt, der von seiner Partei auf eine Landesliste gesetzt wurde.
      Aus Dankbarkeit und Parteiräson wird der gewählte Mandatsträger die Fahne seiner Partei hochhalten, quasi bis zum letzten Blutstropfen (weil er sich auch bei der nächsten Wahl einen aussichtsreichen Landeslistenplatz erhofft).
      Was der Parteivorsitzende, parlamentarische Geschäftsführer oder der Fraktionsvorsitzende sagen, ist Gesetz; Fraktionszwang gehört zum guten Ton; die letztendliche Meinung der Bürger/Wähler ist unmaßgeblich.
      Verhalte Dich angepaßt und Dir geht es gut … ach ja, die besonders angepassten werden nach der politischen Karriere mit einem segensreichen Aufsichtsrats- oder Verbandsposten belohnt.

      Dank der zur Zeit maßgeblichen politischen Diskussionen im Lande um Thilo Sarrazin’s Buch spürt die politische Pseudo-Elite den Wind, der sich sehr rasch zum Sturm entwickeln kann.
      Da gilt es, schnell noch Kapital aus den Strömungen des Volkszorns zu schlagen.

      Während Frau Merkel noch nicht realisieren will, dass ihr FDJ-Bühnenstück „ich mach Dir den Honnie“ gerade abgesetzt wurde, wissen die Damen ihres Teekränzchens, Friede Springer und Liz Mohn, wohin die Reise geht und positionieren ihren Blätterwald nach dem Motto „if you need a friend, I’m sailing right behind“ in der Hoffnung, der geneigte Leser möge nicht (mehr) nach den Regisseuren und Veranstaltern der abgesetzten mind-controlled stage performance fragen.

      Der Souverän wäre allerdings sehr gut beraten, sich nicht von den süssen, populistischen Melodien neuer 20%-Partei-Schalmeien einlullen zu lassen.

      „think tanks“ wie Bertelsmann-Stiftung, INSM etc.

      http://www.dasgelbeforum.de.org/forum_entry.php?id=180134

      und mächtige Lobby-Organisationen

      http://www.dasgelbeforum.de.org/forum_entry.php?id=182191

      werden, wie bei „den Bündnis-Grünen“ bereits erfolgreich umgesetzt, eine „neue Partei“ zu domestizieren wissen.

      Die Gelegenheit ist günstig, mit den Grundlagen einer direkten, gelebten Demokratie, das Parteien-Dickicht zu zerschlagen.

      Die gepanzerten Bollwerke zum Machterhalt der etablierten Parteien lassen sich mit „dem passenden Schlüssel der Direktwahl“ von geeigneten parteilosen Persönlichkeiten, die durchaus eine Interessensgemeinschaft bilden mögen, öffnen.

      Direktmandate führen dazu, daß die Marketingstrategien der „etablierten Parteien“ (ein landesweites Konzept) nicht mehr aufgehen, da sie auf die regionalen Einflüsse, Bedürfnisse und Wünsche der Bürger nicht einzugehen vermögen.

      Jede Persönlichkeit, die sich berufen fühlt, ein Mandat im Bundestag zu übernehmen, kann im Wahlkreis kandidieren … das Zauberwort zum Erfolg heißt „Aufklärung und Wahrheiten vermitteln“ und den Wähler dort abholen, wo er sich alleine gelassen, ausgeraubt und/oder belogen fühlt.

      Die Kandidaten der etablierten Parteien hätten damit einen verdammt schweren Stand!

      Es wäre erstrebenswert, in möglichst vielen Wahlbezirken solche Kandidaten durchzubringen, die dann bei der Bildung des neuen Bundestages das machtbesessene Lumpenpack in den Orkus der Geschichte verweisen.

      Ziele der neuen maßgeblichen Kraft im jetzigen Bundeskasperl-Theater sollten/könnten sein:

      1. die Stärkung des Souveräns mittels Volksabstimmungen

      2. Die Haushaltshoheit hat ausschließlich beim Souverän zu liegen

      3. Steuergerechtigkeit durch Abschaffung aller Subventionen, auch die der Kirchen und eine damit verbundene epochale Steuerreform einschl. der Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens

      4. Anwendung der deutschen Gesetze (insbesondere des Insolvenrechts) für ALLE

      5. Aufhebung der Beamtenprivilegien (Gleichstellung mit Arbeitnehmern)

      6. Steuer- und Sozialversicherungspflicht für Abgeordneten-Diäten

      7. Einführung von Direktwahlen des Kanzlers, des Bundespräsidenten, aber auch Direktwahl der Landesparlamente, der Bundesrichter, der Landräte, Bürgermeister, des Amtsgerichtspräsidenten und last but not least des jeweiligen Bezirksstaatsanwaltes.

      8. Aufhebung der politischen Einflussnahme (durch den Innenminister) auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen.

      9. Einsetzung eines Amtsanklägers, der nachgewiesenen Amtsmißbrauch und Vorteilsannahme von Mandatsträgern mit sofortigem Verlust des jeweiligen Mandats bis hin zur Einziehung des persönlichen Vermögens des Beschuldigten vor einem speziellen Strafgerichtshof (ggfls. unter Aufsicht des BVerfG) einfordern kann.

      10. strafbewährte Aufhebung des Fraktionszwanges und somit Stärkung der Abgeordneten, die ihr Abstimmungsverhalten dann ausschließlich nach ihrem Gewissen und den Vorgaben der Mehrheit seines Wahlkreises auszurichten haben.

      11. totale Veränderung des Gesundheitswesens:
      Abschaffung der zahlreichen Krankenversicherungen und Beschränkung auf eine zentrale Gesellschaft
      Honorierung der medizinischen Dienstleister: Ärzte, Heilpraktiker, Krankenhäuser, etc. etc. nach dem Gesundheitsprinzip:
      Allen medizinischen Dienstleistern wird eine auskömmliche Gruppe von Bewohnern ihres Umkreises zugeteilt.
      Für JEDEN Gesunden (ob Baby oder Greis) wird mtl. eine feste Gesundheits-Pauschale ausgezahlt. Sobald einer der zugeteilten Personen krank wird, entfällt die mtl. Zahlung für diese(n) erkrankten oder verunfallten Patienten.
      ALLE medizinischen Dienstleister (wie aufgezählt) werden nunmehr versuchen, die Kranken in Rekordtempo unter Zuhilfenahme aller technischen Optionen der Wiedergenesung zuzuführen.
      Ärzte, Krankenhäuser etc. werden das beste medizinische Equipment vorrätig halten, für eine optimale Fort- und Weiterbildung sorgen, eine beispielhafte Vorsorgemedizin bereithalten … und sicher keine nutzlosen Medikamente verschreiben.
      Alle medizinischen Dienstleister sind treue Freunde dieser gelebten Demokratie, lediglich die Pharma- und Lebensmittelindustrie werden keifen und alles versuchen, solche grundlegenden Reformen zu verhindern.

      Kurzum, Politik könnte so funktionieren wie eine Aktiengesellschaft. Die Aktionäre sind die Bürger/Wähler (one man, one vote), die in periodischen online-votings die Vorgaben für die Politik bestimmen und kontrollieren.

      Ich bin mir sicher, diese Liste ließe sich vermutlich endlos erweitern, sofern alle Punkte stimmig sind, Sinn machen und vom Bürger/Wähler gewollt sind, kann man die pro’s und con’s offen diskutieren.

      Als Realist befürchte ich allerdings, daß der Souverän verlernt hat, sein Selbstbestimmungsrecht (oder ist es eine Pflicht?) zu übernehmen.

      Dies wird sich spätestens dann ändern, wenn die „Schlafschafe“ erwacht sind und ggfls. nach einer Währungsreform feststellen, daß ihre individuelle Lebensleistung durch die Politikgranden jeder couleur systematisch veruntreut wurde.

      in diesem Sinne ein nachdenkliches Wochenende

      Wolfgang-live

  1. Demokratie setzt aber auch Bürger voraus, die erstens demokratisch gefundene Entscheidungen akzeptieren und zweitens im Prozeß der gemeinsamen Entscheidungsfindung fähig sind trotz aller imho notwendigen Leidenschaft den Fokus auf die anstehenden Entscheidungen behalten.

    Bedeutet also, dass Demokratie nicht nur auf der Strasse gelernt wird, sondern auch in den dann wesentlich nüchternen Momenten am Verhandlungstisch.

    Ohnmacht und Wut ohne das Nachdenken und Analysieren, welche mittel- und langfristigen Folgen das eigene Handeln hat, sind zwar menschlich verständlich, aber nicht gemeinschaftsfördernd.

    Die ggf. berechtigte Frustration über den Entscheidungsprozeß bei #s21 wurde von professionellen Agitatoren benutzt, deren langfristigen Ziele mir nicht bekannt sind.

    Eine Bewegung ohne eine Utopie wie in Stuttgart ist gefährlich, weil sie ihren einzigen Sinn im Widerstand sieht. #k21 und andere schnell zusammengezimmerte Behelfsbegriffe ersetzen keine klare Vision.

    Eine konplexe Gesellschaft lässt sich nur durch delegierte Entscheidungsprozesse umsetzen, die Transparenz dieser muss optional bereitstehen, kann aber nicht rückwirkend als Begründung dienen, Entscheidung negieren zu wollen.

    Wenn es Unstimmigkeiten im zum aktuellen Zeitpunkt als gültig anerkannten Entscheidungsprozeß gibt, müssen diese nachgewiesen und gerichtlich behandelt werden. Alles andere ist Willkür, auch wenn sie in vermeintlich bester Absicht erfolgt.

    Mir gefallen die aktuellen Prozesse auch nicht, aber um eine offenere Gesellschaft leben zu können, braucht es neben der dringenden größeren Transparenz in Politik und Wirtschaft, ein bürgertum, dass sich vertrauensvoll dieser Verantwortung stellt.

    Stuttgart und Sarazin sind nichts weiter als mediale Momente der (teilweise berechtigten) Erbostheit – mit einem neuen Verständnis oder einer ernstzunehmenden weil reflektierten Forderung nach mehr Demokratie haben diese Volksaufstände nicht zu tun.

    1. Ich stimme Dir im wesentlichen zu – ich sehe auch keine Alternative zu einer repräsentativen Demokratie, und ich will auch nicht jede Form von Protest gegen in demokratischen Verfahren ausgehandelte Beschlüsse pauschal gutheißen. Im Gegenteil: Ich halte die enorme Emotionalität, die in Debatten wie dieser hier, der Sarrazin-Debatte und vielen anderen steckt, auch für schädlich. Politik ist im wesentlichen unerotisches Kleinklein, das Bohren dicker Bretter und der Versuch, widerstreitende Interessen durch Verfahren in Einklang zu bringen.

      (Nebenbei: Nachdem ich mich jahrelang auch nur auf einem sehr begrenzten Politikfeld politisch engagiert habe, haben mich bei allen Zweifeln an den realexistierenden Parteien diese monothematische Eruptionen endlich dazu gebracht, auch einer Partei beizutreten.)

      Dennoch glaube ich, daß man nicht umhin kommt, gesellschaftliche Realitäten zur Kenntnis zu nehmen – und das ist eine Heterogenisierung, Fragmentierung, Ausdifferenzierung der Gesellschaft, ein Sinken der Bereitschaft zu dauerhaftem Engagement, eine Verschiebung hin zu punktuellem, projektorientierten Engagement. Und da wäre es die Aufgabe der Parteien, nicht sturheil an ihren überkommenen Organisationsmodellen festzuhalten und allen ein »friß (den Parteiapparat) oder stirb« vorzuwerfen, die andere Beteiligungsformen brauchen. Umerziehen gegen gesellschaftliche Großtrends wird man die Menschen nämlich nicht können.

  2. Für mich persönlich ist Folgendes extrem ärgerlich:
    Die CDU hat vor nicht allzu langer Zeit gesagt … alle, also auch die Industrie und das Finanzwesen haben Ihren Teil zum Sparpaket zu leisten. Die Banken sitzen es aus, die Energiekonzerne bekommen Milliardengeschenke, die Pharmaindustrie bekommt Milliarden in den A*** geschoben, der HRE schiesst man nochmal 40 Mrd. nach und den Hartz IV Empfänger streicht man das Elterngeld, weil alle müssen ja den Gürtel enger schnallen. „Demokratische Beschlüsse“ spielen da keine Rolle mehr.

    Wenn nach jahrelanger Planung, plötlich Gutachten sagen, S21 wird teurer, ist unsicher, hat keine wirklichen Vorteile, und danach tausende auf den Straßen sind, dann muss man sich an „demokratische Beschlüsse“ halten und im Zweifel auch mal auf Rentner einprügeln.

    Mir hat an dem Interview nur gefehlt, dass er in alter Filbingermanier was von Kommunisten und Verbrechern erzählt hat.

    1. Ich glaube, das paßt ganz gut in meine These: Rein formal ist alles korrekt, und das haben Gerichte ja auch bestätigt. Daß es dennoch ein unkommunikativer Politikstil mit (moralisch, nicht formal!) zweifelhaften Winkelzügen ist, läßt sich nur inhaltlich kritisieren. Und das verstärkt dann die Ohnmacht: Obwohl der Prozeß als so eklatant ungerecht empfunden wird, ist er formal nicht zu beanstanden.

    2. Es zeigt aber eben auch, dass die „formale“ Korrektheit der Prozesse hin zum Volksentscheid nicht so ausgeprägt/ausgebaut sind, dass eine Verfahrensgerechtigkeit gewährleistet werden kann. Eine ohne Not vorschnell gegebene Unterschrift trotz (oder eben gerade wegen) des Wissens, dass damit der in Vorbereitung befindliche Volksentscheid unterlaufen wird, müsste einen Amtsträger mE zumindest der Gefahr irgendeiner Form von Haftung aussetzen. Und sei es die „politische“ Haftung aus dem Amt vertrieben zu werden – womit wir dann bei einem der weiteren Bereiche der Krise der repräsentativen Demokratie wären, nämlich der Frage, wie weit und wie direkt Bürger tatsächlich in der Lage sind spezifische Amtsträger personenbezogen aus ihren Ämtern zu entfernen – denn diese bekommt man ja meist auch nur im „Bündel“!

  3. @Jens Die (bürgerlichen) Proteste gegen S21 mit Sarrazin in einem Atemzug zu nennen ist infam. Du solltest dich schämen.

    Ansonsten kann ich mich nur bei Oliver und Julian anschließen. Hinzufügen möchte ich noch dass auch komplexe Gesellschaften (Systeme, ja) nicht allein auf Delegation setzen können und sollten. Das ist nur ein theoretisch effizientes Konstrukt. Denn dass intransparente und nicht-demokratisch legitimierte Mitwirker (Lobbyarbeit ist doch ein altes Werkzeug) hier besser ansetzen können ist auch klar.

    Ich würde denn auch vermuten dass manche Parlamentarier bei S21 anders entschieden hätten, wenn sie gewusst hätten was hier auf sie zukommt. Damit meine ich nicht die Proteste – aber die Salamitaktik der Kostensteigerungen, die Inkompetenz und Arroganz der Befürworter, den immer deutlicher werdenden Charakter as Immobilienprojekt, usw.

    Dass hier aufgeweckte Mitbürger demokratische Beschlüsse als „demokratisch nur dem Formalprozeß nach“ verstehen (und enttarnen) und dagegen protestieren würde ich als Chance für neue demokratische Spielformen und -arenen verstehen wollen. Das ist überaus positiv und ein Signal für die Politik.

    Hier noch mal zu @Jens – du sprichst viel vom Vertrauen das Bürger in den Staat haben sollten, von Verantwortung – das erstere hat der Staat gestern mit Füßen getreten, das zweitere zeigen doch gerade die Proteste, es ist schon da – ein Bürgertum, das sich der Verantwortung für seine Stadt bewusst ist und handelt. Sehe ich auch überaus positiv.

    1. Ich finde den Vergleich Sarrazin und S21 überhaupt nicht infam. Sicher: Inhaltlich sind das zwei völlig verschiedene Fälle. Strukturell sind aber beides Symptome des gleichen Problems – daß sich Menschen nicht ernstgenommen fühlen von der Politik und deshalb ein Ventil suchen. Die Leute, die sich von Sarrazin vertreten fühlen, kann man natürlich pauschal als rassistische Idioten delegitimieren, und viele sind das bestimmt auch. Was sich aber nicht leugnen läßt: Sarrazin ist ein Ventil für zumindest subjektiv wahrgenommene Probleme und Repräsentationsdefizite. Das ist kein Plädoyer für eine Partei rechts der CDU – sondern ein Plädoyer dafür, die Sorgen und Ängste der Menschen, so irrational sie auch sind, ernstzunehmen, und politische Strukturen zu unterstützen, die diese Gefühle zivilisiert und demokratisch kanalisieren können. (Tony Judt hat diesen Gedanken unter dem Label »Sozialdemokratie der Angst« formuliert; leider habe ich gerade keinen besseren Link als den hier zu einem Text von Hubertus Heil zum Thema.)

  4. Jens Best trifft es sehr gut. Die eigentliche Schwächung der Demokratie erfolgt durch diejenigen, die das Ergebnis von demokratisch legitmierten Verfahren nicht anerkennen wollen, aus reiner Emotion heraus, weil sie zuviel Habermas im Schädel haben oder was auch immer. Und was die Gewalt betrifft: Die Funktion der Politik, durchsetzbare Entscheidungen zur Verfügung zu stellen, setzt eine Ausdifferenzierung von Prozessen voraus, mittels derer zunächst politische Macht, letztlich aber physische Gewalt disponiert werden. Dass letztere in unseren Breitengraden eher selten zur Anwendung gelangt täuscht offenbar darüber hinweg, dass es so ist. Auseinandersetzungen wie die in Stuttgart verlaufen daher von vornherein asymmetrisch. Dass es tatsächlich zu Blutvergießen kommt, ist extrem unglücklich und muss im Einzelfall auch aufgearbeitet werden, liegt aber gewissermaßen in der Natur der Sache.

    1. @Thomas Moment, wo siehst du dass der Bürgerprotest gegen S21 „demokratisch legitmierte Verfahren“ nicht anerkennen will?
      Und warum soll dieser Bürgerprotest zur Schwächung der Demokratie, nein sagen wir besser der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft, führen?

      Hast du es nicht mitbekommen oder willst du es nicht erkennen dass es sich hier bestenfalls um legalistisch korrekte Beschlüsse handelt? Vieles an Information kam erst nach den Abstimmungen heraus. Parlamente wurden getäuscht, das – genau das – trägt zum Vertrauensverlust in die Prozesse und Handlungsträger von S21 bei.

      Zuletzt – ich habe es satt wenn immer wieder auf die Spielregeln gepocht wird, ja – Politik soll gestalten, Politik soll verlässlich sein. Aber dann erkläre mir warum bspw. ein so schneller Ausstieg aus dem Atomausstieg möglich ist, denn dieser war ja auch demokratisch legitimiert, nicht wahr?

      1. Was ist denn nun »demokratisch«? Thomas‘ Arbeitsdefinition – »demokratisch ist, was in demokratisch ausgehandelten Prozessen ausgehandelt wird« – scheint mir schonmal ein ziemlich guter Ausgangspunkt zu sein. Wenn das darauf hinauslaufen soll, daß demokratisch das ist, was »das Volk« will, dann ist das meines Erachtens entweder eine inhaltleere Tautologie oder eine hochproblematische Konstruktion, weil im Zweifelsfall ich den Willen des Volkes authentischer auslegen kann als Du, und dann streiten wir uns wieder und sind am Anfang.

        Daß Staatlichkeit im Kern immer Gewalt ist, da stimme ich Thomas zu – wobei ich statt Blutvergießen »Gewaltanwendung« schreiben würde, das geht auch subtiler.

    2. Institutionen und Verfahren sind nicht nur rein rationale Einigung, sie sind auch auf Zustimmung angewiesen; wenn sich das gesellschaftlich Zustimmungsfähige und das politische Prozedere auseinanderbewegen, kann das auf Dauer nicht gutgehen. »Auctoritas, non veritas facit legem«, heißt’s bei Hobbes, auf die Situation hier transponiert: Das schönste rationale demokratische Verfahren nutzt nichts, wenn es von immer mehr Leuten als nicht zustimmungsfähig betrachtet wird.

      Interessant finde ich Deine Erwähnung von Habermas: Gerade Habermas hätte ich unterstellt, zu sehr vernunftoptimistisch zu sein, zu sehr verfahrensgläubig. Wie kommt’s, daß Du die Habermaslektüre im Lager der S21-Gegner siehst?

    3. Du hast den Eintrag schon gelesen, oder? Da wird so schön dargelegt, warum der demokratische Legitimationsprozess in heutigen Zeiten immer weniger funktioniert, und die einzige Reaktion darauf ist: S21 ist demokratisch legitimiert!
      *facepalm*

    1. Da mir als ansatzweise Implementation dieses Prinzips nur die Piratenpartei mit ihrem Liquid Feedback einfällt (und nicht als Beispiel, das mir übergroße Hoffnung vermittelt), hätte ich gerne eine etwas ausgefeiltere Institutionenlehre einer permanent-plebiszitären Demokratie. Wer kontrolliert da ständig und verläßlich die Verwaltung, auch wenn es um lästig-langweilige, immer wiederkehrende Themen geht? Welche Checks and balances gibt es? Wie funktioniert das in einer Massengesellschaft?

  5. Ich finde das von Jens gut erklärt und wir brauchen natürlich eine vielschichtige Debatte. Inhaltlich hat sich das Projekt aber doch sehr gewandelt im Gegensatz zum Zeitpunkt des „legitimierten“ Beschlusses. Man kann so eine Nummer wie gestern in dieser Brutalität einfach nicht abziehen. Die Sache wird von Oliver etwas pauschal erklärt, aber im Grunde hat er Recht: Es gibt kaum noch „Demokratiefenster“ für das Volk und selbst wenn massive Aufläufe und statistische Mehrheiten gegen Politik und Wirtschaft (komisch, das immer nur dieses Geflecht verteidigt werden muss) stehen, dann soll eine Beeinflussung durch den Bürger nicht mehr möglich sein. Warum sitzt bei Nacht- und Nebelverhandlungen um die AKW-Verlängerung verflucht nochmal nicht eine kritische Stimme von Umweltverbänden oder Gesundheitsexperten dabei?!? Die Politik vertritt nicht mehr das Volk – sondern ignoriert Meinungen und haut neuerdings auch wieder zu.

  6. Äh ja.

    Und warum nochmals bist Du grundsätzlich gegen die direkte Demokratie und ausschliesslich für die repräsentative Demokratie?

    Oder habe ich da Deine letzten fünf bis sieben Beiträge zum Thema falsch verstanden?

    1. Ich habe mich niemals grundsätzlich gegen direkte Demokratie ausgesprochen. Ich habe in den vorigen Artikeln – zum Minarettverbot, zum Rauchverbot – immer nur deutlich auf Probleme hingewiesen, die so im wesentlichen alle Formen politischer Machtausübung betreffen, aber teilweise am Beispiel direkte Demokratie deutlich zu Tage treten. Beim Minarettverbot lag der Schwerpunkt darauf, daß auch eine direktdemokratische Entscheidung ihre Grenzen an den Grundrechten finden muß (ein Plädoyer für eine Grundrechtsbindung, wie sie die Schweizer Verfassung nicht vorsieht), beim Rauchverbot war es die Frage nach der Möglichkeit von Aushandeln und Kompromissen, die bei einer binären Ganz-oder-gar-nicht-Entscheidung auf der Strecke zu bleiben droht, und übergreifend ist es immer wieder das Thema, daß ich es für sehr gefährlich halte, wenn man mehr oder weniger willkürliche Kollektive (wie »das Volk«, aber gerne auch »das Parlament«) moralisch überhöht und so ihre Entscheidungen gegen Kritik immunisiert.

      Das ist keine grundsätzliche Ablehnung direkter Demokratie, sondern die Forderung, Legitimation nicht nur an der Größe des Wahlkörpers, sondern auch am Rechtsschutz für den einzelnen zu messen.

      1. Sorry, diese Argumentation verstehe ich nicht: Grundsätzlich ist man für direkte Demokratie, nur wenn das Ergebnis nicht mit dem eigenen Meinungsbild konform geht, ist man dagegen?

        Direkte Demokratie ist keine Parolenveranstaltung (wie es hier in einigen Kommentaren den Anschein hat; die Form der Alt- bzw. Neu68er-Attitüden ist das Gegenteil eines Politikentwurfs, sondern reines Geschwafel). Direkte Demokratie setzt den mündigen, sich informierenden, interessierenden Bürger voraus. Der grosse Charme liegt darin, Mobilisierungspotential zu schaffen. Wenn es dann – wie im Minarettverbot in der Schweiz oder auch der sogenannten Schulreform in Hamburg – nicht „klappt“, müsste dies nicht als Versagen des Volkes gewertet werden (was die gängige Argumentation der Repräsentationsdemokraten ist, wenn’s nicht so ausfällt, wie sie es sich wünschen), sondern als ein Versagen des diskursiven Mobilisierungsapparates. Dabei geht es dann tatsächlich immer ums Ganze und nicht nur um stures Dagegensein (was auch ziemlich einfach ist).

        Die Erfahrungen in Düsseldorf und NRW mit Volksentscheiden sind ernüchternd. Meist wurde das Quorum nicht erreicht; die Leute interessieren sich für städtische Belange kaum. Dies dürfte mittelfristig dazu führen, dass sich weniger Leute für Initiativen engagieren.

        Interessant ist der Satz, Legitimation „nicht nur an der Größe des Wahlkörpers“ zu orientieren. Damit ist natürlich der Willkür Tür und Tor geöffnet. Demokratische Entscheidungen sind immer Mehrheitsentscheidungen, andernfalls sind sie autoritäre Systeme, die kein freies Spiel zulassen (hierzu würde ich bspw. Quotenregelungen zählen).

  7. Viele der im Beitrag gemachten Punkte teilend, hier sehe ich an entscheidender Stelle etwas anders:

    Du nennst die Entscheidung zum Bau des Bahnhofs „sauber legitimiert„, weil „das Projekt nach demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren beschlossen, verschiedene Wahlen im Laufe des Entscheidungsprozeß haben die befürwortenden Gruppen bestätigt, die Beschlüsse wurden vor Gericht überprüft.„.

    Und möglicherweise stoße ich da sogar in eine ähnliche Richtung wie du in deinem Artikel, wenn ich das in Frage stelle und bestreite, dass das Verfahren „sauber legitimiert“ ist. Ganz offensichtlich ist es das nicht. Was wahrscheinlich ist, dass im Verfahren immer legale Mittel angewandt wurden und offensichtlich ist, dass der Entscheid „legal“ ist.

    „Legal“ und „legitim“ ist freilich nicht ein- und dasselbe.

    Hier kommen wir ua zu dem Punkt, dass ja auch der Polizeieinsatz „legal“ ist und von der Exekutive „legale“ Mittel eingesetzt wurden. Nur mit der Anerkennung der Legitimität tun wir uns da schon deutlich schwerer.

    lg
    chr.

    ps: ich hab das mal grafisch in einer Kreuztabelle so dargestellt: http://www.kellerabteil.org/2009/05/gewalt/

    1. Ich sehe uns auch ähnlich argumentieren: Das Problem ist ja, daß die Befürworter die Legitimität durch die Legalität des Verfahrens gesichert sehen; prinzipiell ist das auch der richtige Weg, mit dem – bei allgemeiner Akzeptanz des Verfahrens – Konflikte verhindert werden. Nur funktioniert das genau so lang, wie das Verfahren akzeptiert wird, und hier gibt es dann Legitimationsdefizite – und dann besteht endgültig kein Dissens mehr zwischen Dir und mir, denke ich.

  8. Ich denke es wäre am der Zeit eine Partei Stuttgart21 zu gründen und der CDU im März bei der Landtagswahl eine politische Quittung zu geben. Contra s21

    1. Die Partei gibt es – Bündnis 90/Die Grünen. Und die Chancen, mit einer grünen Stimme etwas zu bewegen (und einen Regierungswechsel …), sind da doch deutlich größer als die einer Parteineugründung zu einem Thema (die Piraten kämpfen gerade damit, dass das Landtagswahlrecht in Baden-Württemberg für jeden einzelnen Wahlkreis 100 oder 200 Unterstützungsunterschriften vorsieht!)

      1. Ausgerechnet die Umfallerpartei? Die waren hier in Hamburg auch ganz doll gegen das Kohlekraftwerk Moorburg, und dann haben sie es mit „Kohle von Beust“ (Grünen-Wahlkampfslogan) zusammen umgesetzt.

        Schwarz-Gelb wird in BaWü seine Mehrheit verlieren, und dann werden sich die Grünen bei der CDU anbiedern, wobei sie leider nachträglich an S21 nichts mehr ändern können.

      2. @Till Westermayer: Das ist billige Wahlkampfrhetorik. Die Grünen hätten S21 mir ihren medialen Möglichkeiten sehr früh thematisieren können, was sie nicht gemacht haben, weil sie es als kommunales Problem sahen. Klassischer Fall von politischer Fehleinschätzung. Jetzt kochen sie ihr Süppchen in der Hoffnung dass niemand merkt, dass, wenn sie im März 2011 an einer Regierung beteiligt sein sollten, FÜR das Projekt stimmen werden. DIE Umfallerpartei der 90er und 00er Jahre sind die Grünen. Sie haben die FDP längst abgelöst.

  9. @Martin Koser

    ich bin mehr gewagter Demokratie überhaupt nicht abgeneigt. Im Gegenteil.

    Ich denke auch (ähnlich wie @txxx666), dass die Menschen in Deutschland in 2010 ein ganzes Stück weiterentwickelt sind und deswegen näher an einer realistisch funktionierenden Umsetzung von mehr gemeinsamer und transparenter Gestaltung. Die technischen Möglichkeiten des Web diese umfangreichen Entscheidungs- und Diskussionsebenen zusammenzubringen spielen da auch eine Rolle, neben dem gesteigerten Bürgerbewusstsein.

    Dennoch, wer sich vor einen lausigen Bahnhof und ein paar Bäume wirft und sich mit dem Widerstand in der DDR oder gar mit den Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens vergleicht, überhöht sein Engagement in einer nach wie vor funktionierenden Demokratie und spuckt auf die Menschen, die in Diktaturen für die Freiheit gekämpft haben.

    Ich habe mir den Livestream auf flügel.tv und viele andere Berichte angesehen. Angeführt von einem nicht verhandlungsbereiten Ex-DKPler offenbart sich AUCH der undemokratische Volkszorn bei #s21 – ähnlich wie ich ihn live in der Sarrazin-Erregung beobachten durfte.

    Nichts gegen Emotionen, wir sind keine Meinungsroboter, aber das Maß der Dinge, das Ziel in der Sache ist immer noch einen Konsens zu finden, ausgehend von bestehenden Entscheidungen.

    #s21 wurde 15 Jahre diskustiert, auch wenn es offenbar die üblichen Filz-Entscheidungen gab, hätte der ablehnende Bürger schon längst anders eingreifen können.

    PS: Und wenn ich sehe, wie der berechtigte Kampf gegen die Atommafia mit dieser Schwabenpose vermischt wird, wird mir ganz elend im Herzen. Die einen kämpfen gegen gierige Macht UND für eine andere Energiedenke. wo ist das positive Konzept für Mobilität in Stuttgart? Wo ist das Big Picture der dortigen Schreihälse?

    1. @Jens die Gleichsetzung der Proteste gegen S21 mit dem Platz des himmlischen Friedens ist geschmacklos, ja. Stimme dir da zu. Da gehen manchen die Emotionsgäule durch …

      Bei den anderen Punkten bin ich aber in der Sache anderer Meinung – es geht eben nicht allein um einen lausigen Bahnhof, es geht um Stadtentwicklung im großen Stil. Wenn du wie ich die letzten Jahre in und um Stuttgart gelebt hättest würdest du wissen dass a) das Unbehagen das zum jetzigen Widerstand führte eine lange Vorgeschichte hat, b) das Mitwirken dieser mündigen Bürger mannigfaltig und mit vielen Winkelzügen beschnitten wurde und (mindestens c, es gäbe auch noch d bis z) es durchaus alternative Mobilitätskonzepte gab und gibt. Und nein, diese wurden auch nicht erst in den letzten Tagen schludrig zusammengeschmiert. Informiere dich doch auch einmal auf den Seiten der Kopfbahnhof 21 Befürworter.

      Noch eins, ob Gangolf Stocker mal in der DKP war ist mir persönlich egal – wer sich davor gruselt dem ist nicht zu helfen. Der bürgerliche Protest in Stuttgart hat sich wohl bisher von diesem schwachen (und durchschaubaren) Versuch einer persönlichen Diffamierung nicht beeindrucken lassen.

      Zuletzt – die Verunglimpfung Schwabenposse verbitte ich mir, damit spuckst du nämlich selbst auf deine engagierten Mitbürger, gell?

  10. Das ist auch ein falsches Dilemma, weil der Bau unter falschen Vorraussetzungen legitimisiert wurde. Inzwischen ist klar, dass die Kosten Explodieren, aber der Nutzen zweifelhaft ist. Einzulenken wäre kein Einknicken vor dem Pöbel, sondern einsicht eigene Fehler einzugestehen.

    1. Momentan haben wir eine Gutachterschlacht, und beide Seiten haben nicht ganz unseriöse Gutachten auf ihren Seiten – wenn (auch ingenieurswissenschaftliche) Wahrheit sich so einfach als wahr erwiesen werden könnte, wäre Wissenschaft um einiges einfacher. Hier möchte ich nochmal auf das im Zeit-Blog beschriebene Mediationsverfahren hinweisen, das beim Frankfurter Flughafenausbau gewählt wurde, das genau dem – daß beide Seiten legitimerweise davon ausgehen, das richtige Gutachten zu haben – Rechnung trägt.

  11. „Es ist eine fast schon autistisch zu nennende Reaktion eines selbstgenügsamen politischen Apparats, der sturheil nur seinen Prozeduren zu folgen vermag, ohne sich von Kontexten beeinflussen zu lassen.“

    Ich möchte nicht immer und immer wieder mit Politikern verglichen werden.
    Ich bin Autist, und mir missfällt, wie der Begriff autistisch immer mal wieder verwendet wird.

    1. Danke für den Hinweis, das Wort »autistisch« habe ich tatsächlich unbedacht verwendet, ohne daran zu denken, daß solche Metaphern problematisch sind und wie sie bei Dir ankommen können. Ich habe es geändert in »an Nabelschau grenzend«, suche aber nach wie vor ein Adjektiv, das den Gehalt der Metapher »autistisch« ähnlich prägnant wiedergibt.

      1. „[…] suche aber nach wie vor ein Adjektiv, das den Gehalt der Metapher »autistisch« ähnlich prägnant wiedergibt.“

        Demnach denkst du, dass die „Metapher“ »autistisch« genau das ausdrückt, was du sagen möchtest. Was genau möchtest du denn sagen?

        1. Das Wort autistisch ist ja aus gr. autos, selbst, gebildet: »um sich selbst kreisend« beschreibt es also ganz gut. »Nabelschau« auch. Den Vorschlag »merkbefreit« finde ich auch nicht schlecht, wenn da auch immer eine netztypische Hemdsärmeligkeit mitschwingt.

  12. Sehr geehrter fxneumann,

    „Es ist eine fast schon autistisch zu nennende Reaktion eines selbstgenügsamen politischen Apparats, der sturheil nur seinen Prozeduren zu folgen vermag, ohne sich von Kontexten beeinflussen zu lassen.“

    Hierzu habe ich folgende Fragen:
    – Was bedeutet ihrer Meinung nach „autistisch“ und woher haben sie ihren Kenntnisstand des Themas?
    – Wie sehen sie die gesellschaftliche Stellung autistischer Menschen?

    1. Mit derart patzigen Reaktionen erweisen Sie ihrer Sache – die ich ja, wie in der Antwort auf Paul nachzulesen, durchaus teile – einen Bärendienst.

      1. Hm. Ich sehe da nichts Patziges. Mag daran liegen, dass ich Autist bin, dass ich da nur zwei ernstgemeinte Fragen lese, auf deren Antwort ich auch gespannt war, bzw. noch bin.

  13. Das Gefühl der Ohnmacht hat täglich zahlreiche Möglichkeiten zu erregen. Wenn es nur das wäre, müssten wir häufiger solche parteienübergreifende Demonstrationen erleben, an denen sich ganze Familien beteiligen.
    Was wir in Stuttgart erleben, ist eine Art soziale Bewegung im Regionalformat. Die kommen dann und wann vor und sind nicht allein aus ihrem Anlass zu erklären. Sehr wichtig ist – vermute ich – eine lange Inkubationszeit, innerhalb der das Thema eine gewisse Popularität und Bekanntheit aufbauen kann. Es muss sich ja erst einmal allen vermitteln. Je mehr dann „alle“ dabei sind, desto mehr sind tatsächlich dabei und dann eben auch Kinder und Jugendliche. Erst wenn der Protest diese Breite gewonnen hat und nicht mehr nur eine Milieu-Erscheinung ist, kommt das Gefühl der Ohnmacht auf: „Jetzt sind wir so viele … und trotzdem haben wir keine Chance.“

    Nebenbei: Dass Politiker auf einmal sagen, sie würden auf Umfragen keinen Wert lege dürfen, ist natürlich der Witz des Jahres. Die starren längst wie die Kaninchen auf die Umfragen und „Sonntagsfragen“ – und das ist auch der einzige Grund, warum sich die Koalitionäre in Berlin Sorgen machen. Wahrscheinlich steht hinter dem Polizeieinsatz einfach die Überlegung, so schnell wie möglich Fakten zu schaffen – um damit den Protest zur Resignation zu zwingen. In der Hoffnung, bis zur Landtagswahl hätten sich dann die Gemüter wieder beruhigt und die soziale Bewegung wäre mehr oder weniger erloschen und jedenfalls ohne Rückwirkung auf die Stammwählerschaft der CDU. Angesichts der herannahenden Landtagswahl hat die CDU keine Zeit mehr für demokratische Verzögerungen. Da steckt eben doch ziemlich viel Demoskopie hinter dem Wasserwerfer-Einsatz …

    1. Exakt. Genau das ist der Plan. Selbst wenn sich die betroffenen Stuttgarter am Wahltag noch daran erinnern, wie mit ihnen umgegangen wurde, wird sich der Rest des Landes (in den Plänen der Regierung) bis dahin anderen Themen zugewandt haben.

  14. >Wie wird eine Demokratie so ausgestaltet, daß sie ihrer Aufgabe gerecht wird: Das Aushandeln der Bedingungen der Freiheit ermöglichen.

    Diese Frage wurde bereits im 17. Jahrhundert recht eindeutig beantwortet. Was wir hingegen heute erleben ist ein zunehmendes Absurdum, bei dem sich unter dem frei verfügbaren Banner „Wir sind das Volk“ beliebige Partikularinteressen Gehör verschaffen. Diese mögen mal nobel und mal weniger nobel sein, führen aber letztlich allesamt zum gleichen Ergebnis: Stillstand.
    Merkel hat mit ihrem obigen Zitat (ausnahmsweise) Recht.

    1. @Thomas Hmm, hat Fritz das Zitat und die Geisteshaltung nicht bereits sehr schön als Treppenwitz entlarvt? Bild und Glotze, mehr braucht es nicht zum regieren … frag dich mal warum die Bild so ruhig hält.

      Zudem Widerspruch bei der Diagnose – wo siehst du in dieser dynamischen Gesellschaft Stillstand? Speziell in der Arena Politik besteht doch an bewegungsschaffenden und beliebigen Partikularinteressen und ihren Vertretern kein Mangel … schlag nach unter Lobby.

      Denkst du wirklich dass das komplexe System Politik in stabile Zustände zurückfällt, sprich dass die Stuttgarter jetzt aus einer Laune heraus protestieren und später zur Tagesordnung übergehen? Dass sich gar ein gesellschaftlicher Dead-Lock ergibt, ein gordischer Knoten etm.? Nein, da sind schon größere Muster am emergieren. Selbst wenn es temporär stocken sollte – und im Moment sind die Fronten echt verhärtet – ja dann, dann kommt mit der nächsten Wahl wieder Bewegung ins Spiel ….

  15. „Repräsentative Demokratie ist eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts: Organisation unter den Bedingungen langsamer Kommunikation, langwieriger Reisen und damit der Unmöglichkeit, sich mal eben oben einzumischen.“

    Vielen Dank für diese Aussage. Das trifft meiner Meinung einen Hauptkern der Problematik. Und nimmt auch dem häufigen „Früher-war-alles-besser“-Gerede den Wind aus den Segeln. Ich wage zu bezweifeln, dass – wie mitunter gern behauptet – die Politiker (nur) immer korrupter und machtfixierter werden – der Wähler hat nur heutzutage die Möglichkeit, umfangreicher und breiter gefächert hinter die sprichwörtlichen Kulissen zu schauen.
    Ich denke auch, die bzw. zumindest einige Wahlverfahren müssen sich bald an diese veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts anpassen – ohne, dass gleich flächendeckend und für alles Volksentscheide eingeführt werden.

    1. Ich glaube nicht, dass repräsentative Demokratie sich nur aus den (technischen, soziologischen) Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts erklärt. Sie ist auch ein sehr pragmatisches Werkzeug: Eines der Delegation.

      Für Dinge wie die Bundesversammlung mag die Diagnose, dass sie heute anders organisiert werden könnten, durchaus treffen. Für den politischen Alltag mit seiner Vielzahl an unterschiedlichsten Themen und Interessengruppen ist es schlicht nicht durchführbar, dass sich alle im Staate am Diskurs beteiligen. Man stelle sich nur vor, es würden sich alle einbringen! Welch unglaubliche Kakophonie!

      Der Ansatz, dass es Menschen gibt, die sich mit Dingen besser auskennen und die deshalb maßgeblich Entscheidungen verantworten, hat schon etwas sehr sinnreiches. Das dieser Prozess auch offener gestaltet werden sollte und man sich, wenn man möchte, stärker einbringen kann, ist natürlich wünschenswert. Aber andererseits: Wenn man sich eingebracht hat, darf man dann einfach so wieder rausgehen?

      Und wenn wir nun diesen Delegationsprozess näher ansehen, müssen wir irgendwie zu einem Verfahren kommen, um die Vertreter zu finden, denen wir (in mehr oder weniger grossem Umfang) vertrauen, Entscheidungen zu erzielen, die auch uns gut zu Gesicht stehen — dann müssen wir uns auf Dinge zurückziehen, die wir selbst beurteilen und entscheiden kommen. Hier kommt man, in meinen Augen, eben auf die grundsätzliche Weltanschauung („Werteordnung“), und darüber zu den Parteien. Darüber werden die Positionen im grundsätzlichen politischen Spektrum verortbar. Und damit habe ich ggf. als jemand, der sich nicht mit allen Themen auseinandersetzen möchte, eine Möglichkeit, eine Bündelantwort auf bestehende Fragen zu geben.

      Denn alle Themen wie Liquid Democracy und offener Diskurs sind in meinen Augen — so sehr sie als Versuche und Wünsche und konkrete Ideen auch wichtige Beiträge in die Weiterentwicklung sind! — noch viel zu verwundbar. Ich sehe bei solchen Systemen noch keinen nachvollziehbaren Weg, dass nicht doch Partikulärinteressen dann doch wieder sehr schnell überwiegen. Das nicht doch kleine, aber resourcenstarke Gruppen nicht doch wieder den Prozess (und damit das Ergebnis) in die für sie vorteilhafte Richtung führen. Und /prinzipiell/ ist ein demokratisches System, dass durch eine starke und selbstbewusste, kritische Öffentlichkeit (vormals: Presse) begleitet und beobachtet wird, in dem Sinne auch darauf eine Antwort. Das dem heute nicht mehr so ist, mit weil auch die Presse sich den Partikulärinteressen ausgesetzt hat, eine andere Frage.

      Hach. Wäre das alles nur viel einfacher!

  16. >Bild und Glotze, mehr braucht es nicht zum regieren … frag dich mal warum die Bild so ruhig hält.

    Interessiert mich nicht die Bohne. Selbst ein habermasianischer „Konsens“ (den ich für ein völlig verfehltes Konzept halte) hätte nicht berücksichtigen können, dass viele sich in ihrer Meinungsbildung mit Oberflächlichkeiten begnügen.

    >wo siehst du in dieser dynamischen Gesellschaft Stillstand?

    Da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt: Wir hätten Stillstand, wenn sich Politik von allen Bewegten stets beeindrucken ließe, das meinte ich. Denn es gibt nun mal nicht „den Volkswillen“. Wenn es ihn gäbe, dann hätten sich die abendländischen Philosophen ihr Geschreibsel auch sparen können.

    >sprich dass die Stuttgarter jetzt aus einer Laune heraus protestieren und später zur Tagesordnung übergehen?

    Aber selbstverständlich. Die normative Kraft des Faktischen vollbringt wahre Wunder. War in Wien beim Konferenzzentrum nicht anders und bei der Startbahn in Frankfurt auch nicht, bei der Hamburger Airbus-Startbahnverlängerung ditto.

    1. Jetzt kommen wir zusammen – daher Zustimmung zum jetzt deutlicheren ersten Punkt – nicht alle sind zum Hobby-Verkehrsplaner und -Geologen geboren. In der Folge kann man nun sein a) Vertrauen in Politiker und die von jenen bezahlten Experten und Gutachter delegieren; b) sich mit Oberflächlichkeiten begnügen („Bild und Glotze“ ist wichtig, auch wenn dich die Mechanismen der Mediengesellachaft nicht interessieren bleiben sie wichtig) oder c) sich richtig doll mit der Meinungsbildung anstrengen.

      Anstrengen ist hier *das* Keywort, denn wenn wir heute über komplexe Stadt- und Verkehrsentwicklung diskutieren werden wir uns morgen mit noch komplexeren Dingen herumschlagen müssen.

      Und Konsensfindung wird schwieriger werden, bei vielfältigsten Bürgerwillen. Das ist aber nicht die Schuld der Bürger – vielleicht am ehesten noch ein Versagen der professionellen Kommunikatoren und Spin-Doctors die es über Jahre nicht geschafft haben ihre Botschaften bei den widerspenstigen Leuten (und sie haben es versucht, ohja) zu verankern *sg* – sondern auch eine Aufgabe und eine Lehre für Projektbetreiber und -befürworter. Informationen müssen ja auch da sein für die Meinungsbildung und wenn Studien zurückgehalten werden und nur die Gutachten die gefallen auch publiziert werden dann wächst das Mißtrauen.

      Wenn Meinungsbildung dagegen offen und transparent geschehen kann entsteht Vertrauen ins Projekt, und wir können auch dann damit leben dass nicht alle jene, die abstimmen können einen Überblick über das Projekt haben. Letztlich deshalb weil sie darauf vertrauen können, dass andere diese Projekte genauer kontrollieren als sie selbst Lust und Zeit haben.

      Beim zweiten Punkt hast du mich wiederum ein bissele mißverstanden – ich erwarte keine Proteste vor einem gebauten Bahnhof, die normative Kraft des Faktischen ist stark, ja. Was ich dagegen erwarte ist ein unmittelbarer Einfluß auf die kommenden Landtagswahlen, und eben auch den Verlust von ehedem vorhandenen „stabilen Zuständen“. Da ändert sich gerade etwas in der politischen Landschaft, ich kann zwar nicht genau sagen was es ist und wie es wird, aber zurück geht’s nicht mehr.

  17. Ein wichtiges Argument würde ich ergänzen wollen: Dass unsere heutige Demokratie aus dem 19. Jahrhundert, also einer „langsameren“ Zeit stammt und durch die Schnelligkeit moderner Kommunikationsformen quasi unter Anpassungsdruck kommt, kann man so sehen.

    Konsequenterweise müsste man dann aber auch die Planungsprozesse für Vorhaben wie Stuttgart 21 ebenfalls beschleunigen können. Ein großes Manko heute in Deutschland ist doch, dass gerade große Infrastrukturvorhaben zum Teil über Jahrzehnte geplant, beantragt, bewilligt und schließlich umgesetzt werden. Diese Prozesse scheinen immer zäher und langsamer zu werden, gerade weil Einspruchsfristen und -verfahren von den Bürgern intensiv genutzt werden.

    Mehr direkte Demokratie müsste auch darauf eine Antwort finden, ebenso wie auf die Problematik, dass sich das Meinungsbild einer Mehrheit über längere Zeiträume ändern kann.

    Mit Blick auf Stuttgart 21 deshalb die Frage: Wie werden wohl Investoren und die Politik reagieren, wenn Projekte mit notwendigerweise langer Vorlaufzeit tendenziell Gefahr laufen, noch kurz vor Baubeginn von einer scheinbaren oder tatsächlichen (neuen) Mehrheit im Wege der direkten Demokratie wieder gekippt zu werden?

    1. Wird die Bevölkerung weiterhin bürgerliche Parteien wählen und am demokratischen Prozess teilhaben, wenn dieser aus dem Durchsetzen von Rechtspositionen mit Pfefferspray und Wasserwerfen besteht?

    2. Wie bei so vielem ist hier das Kind schon in den Brunnen gefallen; für ein konfliktminimierendes Verfahren ist es hier wohl schon zu spät. Allerdings zeigt das Beispiel Schweiz, daß es durchaus möglich ist, auch unter der Bedingung von Bürgerbeteiligung Großprojekte zu bauen. Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT, Alp Trans) etwa ist natürlich auch nicht unumstritten, führt aber nicht zu solchen Aufständen wie Stuttgart 21 – bestimmt auch, weil institutionell sichergestellt ist, daß vor dem großen Knall über Bürgerbeteiligung nachgedacht werden muß.

      1. Dazu auch folgender Gedanke hinsichtlich „Durchsetzbarkeit von Großprojekten bei direkterem Bürgereinfluß“: meist bewegt sich das ja in einem Spannungsfeld des „Ja, im Sinne aller notwendig, aber bitte nicht bei uns“.

        Ökonomisch betrachtet bedeutet das aber doch nichts anderes, als dass die Gesamtgesellschaft einen Nutzen hat, eine kleine Gruppe jedoch einen Schaden. Sofern der „Gesamtnutzen“ grösser ist als der „Teilschaden“, das Projekt also gesamtökonomisch Sinn ergibt, müsste die den Nutzen habende Gesamtgesellschaft mE entsprechende Ausgleichszahlungen (an die betroffene Region) in Erwägung ziehen. Unter solch fairen Bedingungen steht auch einer lokalen Abstimmung direkt Betroffener Bürger nichts mehr im Wege.

  18. Danke für den sehr reflektierten Artikel! Ich sehe in S21 primär ein Symptom für ein System, in dem wirtschaftliche und politische Interessen problematisch miteinander verstrickt sind. Politiker, die Gewalt gegen wehrlose Menschen befehlen und sich vor dem Begriff „Demokratie“ verstecken begehen eine fundamentale Täuschung der Öffentlichkeit. Denn sie handeln nicht im Sinne des Volkes, sondern der Konzerne. Wenn ich es recht beurteilen kann, besteht die Funktion unseres parlamentarischen Systems längst in einer Kaschierung der Tatsache, dass die Entscheidungen nicht mehr vom Volk, sondern von den Lobbyverbänden ausgehen. Wir drohen unserer Demokratie verlustig zu gehen und steuern in einen Korporativismus faschistischer Prägung, wenn nicht bald die Notbremse gezogen wird.

  19. Pingback: Faszination | stk
  20. „Es braucht Mechanismen, wie gesellschaftliche Debatten in politische Entscheidungen übersetzt werden, mit spürbaren Rückkopplungen. “

    Wie viele Wahlen gab es eigentlich seit der Entscheidung pro S21?

    Und Bitte, was hat die Diskussion mit der repräsentativen Demokratie zu tun, wenn z.B. eine direkte Abstimmung 51% pro S21 ergeben. Auch hier hätten die Gegner demonstriert und blockiert.

    Wir brauchen Mechanismen die garantieren, dass legitimierte Entscheidungen die einmal getroffen wurden auch umgesetzt werden, schließlich gibt es weitreichendere Vorhaben als das Aufstellen von Parkbänken.

  21. Lieber Felix,

    das ist ja schon nicht mehr nur eine repräsentative Demokratie, sondern ein Teilhabeausschluß. Eine repräsentative Demokratie verbietet weder die direkte Demokratie oder Basisdemokratie – aber genau das passiert hier: Der bürgerliche Protest gegen eine parlamentarische Entscheidung der repräsentativen Demokratie wird kompromisslos niedergeschlagen! Das ist eine neue Qualität der politischen Auseinandersetzung.

  22. Das Meditationsverfahren am Frankfurter Flughafen war ein Witz und wurde ja prompt hinterher auch von der Landesregierung gebrochen. Natürlich ohne irgendeine Konsequenz.

    Demokratie? Wohl eher der Staat als Beute.

  23. ich pflichte hier Martin Koser und FXNeumann bei, gegen Jens Best und Thomas Strobl, die hier etwas sehr holzhammermäßig argumentieren. trotzdem ist natürlich ihr einwand als solcher sehr diskutierenswert.

    es ist ja wohl so, dass es bei „legitimation durch verfahren“ (Luhmann) immer neben dem harten, formalisierten verfahren immer auch ein weiteres, gesellschaftlich-diskursives verfahren gibt, in das das erste eingebettet ist. dieses „weiche“ verfahren ist selbstverständlich notwendig, und wenn die büro/techno/lobbykraten sich einkaspeln, fliegt ihnen ihr apparat irgendwann um die ohren. verdientermaßen.

    dass diese einbettung nicht mehr funktioniert, hat viele gründe: u.a.

    (1) dass das herkömmliche bundesdeutsche system von repräsentation über beamte, fachleute und verbandshonoratioren tot, oder eher: untot ist. das kann man bedauern, aber es ist nicht zu ändern. die offene frage ist, wie legitimation und repräsentation überhaupt neu begründet werden kann.

    (2) dass durch die elektronischen medien (schon seit den 1960er jahren) und natürlich v.a. (einstweilen eher indirekt) auch durch das internet eine neue „direktschaltung“ in die köpfe der bürger gelegt wird. die alten medien machten für jede/n einsichtig, dass es naturnotwendig hinterzimmergespräche, vertrauliche akten usw. geben muss. das ist nicht mehr so. die neuen medien targen das versprechen bzw. die forderung nach totaler transparenz in sich, quasi eingebaut

    und doch, es gibt schon einen bezug zur Sarrazin-welle, obwohl die art, wie diese parallele von Jens gezogen wurde, schon ein wenig beleidigend ist. auch im fall Sarrazin ist ja das problem, dass politik & verwaltung seit jahrzehnten in einem eigenen vermeintlichen sachzwang-raum vor sich hin wursteln, der losgelöst ist von lebendigen gesellschaftlichen diskursen.

    tatsächlich herrscht in der politischen diskussion ja schon seit jahrzehnten (seit ich volljährig bin) eine lähmende, resigniert-fatalistische ohnmacht & sprachlosigkeit. in genau dieser zeit haben sich wirtschaft, gesellschaft, medien usw. radikal verändert. und aus dieser ohnmacht beginnen die leute jetzt langsam zu erwachen. dass das nicht nur schöne folgen hat, ist klar.

  24. Zum Thema „demokratisch legitimiert“, bzw. „warum wird erst jetzt protestiert“ hier ein Video von 1997. Es zeigt die „Bürgerbeteiligung“: OB und ein Prof stellen die Pläne vor. Der Prof erläutert den anwesenden beteiligungswilligen Bürgern, sie hätten genaugenommen gar nichts mitzuentscheiden. Darauf reagieren die anwesenden Bürger zunehmend empört:

    http://www.archive.org/details/Stuttgart_1997&reCache=1

    1. Thomas Strobl hat dazu einen interessanten Artikel geschrieben, in dem er Luhmann u.a. so zitiert:

      Diese Ungewissheit ist die treibende Kraft des Verfahrens, der eigentlich legitimierende Faktor. Sie muss daher während des Verfahrens mit aller Sorgfalt und mit den Mitteln des Zeremoniells gepflegt und erhalten werden – zum Beispiel durch betonte Darstellung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, durch Vermeidung bestimmter Entscheidungsversprechen und durch Verheimlichung schon gefasster Entscheidungen […]

  25. hallo,
    super text erst mal.
    ich bin auch der meinung, daß es hier nicht (nur) um einen bahnhof geht. es steckt viel mehr dahinter. hier wird \entladen\.
    der bürger hat doch wirklic keine echte möglichkeit sich gegen diese \partei-diktatur\ durchzusetzen. warum werden wir nicht öfters gefragt? warum werden bei solchen sachen nicht volksentscheide automatisch eingesetzt?

    ich seh das so, für die täglichen arbeiten sind politische systeme, wie wir eins haben ok. aber in sonderfällen wie S-21 aber eher schlecht geeignet. wenn man schon ganz offen demos veranstaltet, sollte doch dem bauherren, den stadtvätern und der regierung auffallen, daß es da ein problem gibt. daher ist es unfug, jetzt noch einen zeitplan einhalten zu wollen. da muß man mal flexibel sein… wird von uns doch auch dauernd erwartet. aber dieses staats-systemmonster von regierung ist es halt nicht mehr. und dann passiert genau das! es eskaliert… traurig, nich wahr?
    als das projekt geplant wurde, ’95 war die ausgangssituation eine andere. jetzt, hatten oder haben wir noch kriese, die probleme sind andere und die zeit nun auch. auch die leute sind teilweise andere…
    das sollte mal überlegt werden. und ich mein, kann man sich da nicht mal an einen tisch setzten, und überlegen, ob eine schlichtere lösung nicht auch gehen würde? oder ob man das projekt nicht in 2-3 phasen baut oder ob man es nicht für 5 jahre verschiebt, dann mal sieht und neu abstimmt? klar, irgend wann muß man mal anfangen, aber jetzt zu zeit? schlechter zeitpunkt einfach.

    und, die art und weise ist einfach scheiße gewesen, wie hier vorgegange ist. sowas kann und darf überhaupt nicht vorkommen. eine demo mit gewalt auflösen… klar hat da jemand provoziert…. tun wasserwerfer nun mal.. wenn ihr mit einem helm zur demo kommt ist es provokant, wenn die mit WW und helmen auftauchen schützen sie sich.
    hättens da nicht auch \normale\ uniformen getan? nicht gleich kampfanzug? hätte da nicht mal ein bürgermeister oder so in eine flüstertüte sprechen sollen?

    ich denke, man hätte den baubeginn einfach mal verschieben sollen. dann wären viele schon entspannter gewesen, und ein tag hin oder her ist auch egal. wird eh nix mit dem veranschlagtem termin und den geplanten kosten. minimun 1/3 mehr und dauern wirds auch monate länger. ist doch immer so, oder?

    ja, da von mir.

  26. Noch eine Anmerkung: Ich weiß nicht, ob das Stichwort „Technokratie“ hier schon fiel, aber genau um den Gegensatz

    (direkte) Demokratie Technokratie

    gehts es hier wohl. Wie auch bei den AKWs und unzähligen anderen Gelegenheiten: Sind die Bürger zu dumm oder emotional, um über komplexe Sachverhalte zu entscheiden, sollen Experten (angeblich neutral, sachlich) die Entscheidungen treffen, die von den gewählten Parteien ausgewählt werden?

    1. Bei uns in der Gegend wird gerade wieder einmal um Funkmasten gestritten: In Breitnau, südlich von Freiburg im Schwarzwald, soll ein Funkmast gebaut werden, der im Tal digitalen Funk für Polizei und Rettungsdienste ermöglicht, und der Gemeinderat ist dagegen – auch wegen der ominösen »Strahlenbelastung«.

      Solche irrationalen Bedenken erschweren natürlich jede ernsthafte politische Auseinandersetzung – aber dagegen ist auch die repräsentative Demokratie nicht gefeit. Haben wir ja in diesem Beispiel und bundesweit vor kurzem in der Homöopathie-Debatte gesehen.

  27. Die Idee einer verstärkten Basisdemoraktie mit mehr Einflussmöglichkeiten sind auf jeden Fall zu verfolgen. Aber es darf meiner Meinung nach auch hier nicht übertrieben werden, oder die Basisdemokratie als alleiniger Heilsbringer angesehen werden.

    Interessanterweise bin ich erst vor ein paar Tagen über einen Blogeintrag zur einer Anime-Episode gestolpert, die vor vielen Jahren bereits überspitzt dieser Frage nachging. In dieser Episode betritt die umherreisende Hauptfigur ein Land, in dem die Menschen ihren Herrscher gestürzt und dann alles auf basisdemokratische Weise entschieden haben. Es galt immer die Mehrheit. Dieses Prinzip jedoch hat dann am Ende seine eigenen Kinder gefressen, da alle, die anderer Meinung, aber in der Minderheit waren, so lange exekutiert wurden, bis am Ende nur noch zwei übrig waren.

    Was ich damit sagen will: wir müssen bei der Vision der Basisdemokratie auch die Gefahren berücksichtigen. Wenn wir nämlich alles auf den überspitzten Kern eindampfen, dann bedeutet das, dass in einer Basisdemokratie immer derjenige gewinnt, der am lautesten für seine Sache schreit und damit im schlimmsten Fall die Mehrheit der Stimmen holen kann. Das Minnaret-Verbot in der Schweiz tendiert ja in diese Richtung. Die Mehrheit muss damit noch nicht einmal wirklich im Recht sein oder eine genügende Faktenlage besitzen. Der Lauteste gewinnt. Oder: derjenige, der am besten mobilisiert. Es geht also am Ende – überspitzt gedacht – nicht mehr um ein Thema, sondern nur um die Frage der Mobilisierung. Wie viele kriege ich auf meine Seite. Schlimmer noch: Eine einmal getroffene Entscheidung kann jederzeit revidiert und die Revidierung dann ebenso wieder revidiert werden. Je nach Gusto und aktueller Stimmung bzw. Mobilisierung. Alleine schon auf rechtlicher Basis wäre ein solches Land bald am Ende. Bei S21 wäre das also erst der Bau. Dann wird er gestoppt, die Gegner haben gesiegt. Dann mobilisieren die Befürworter aber stärker, also geht der Bau wieder los. Dann kommen wieder die Gegner usw. etc. pp. ad inifinitum. Man könnte es also ganz krass die „Diktatur der Lauten“ nennen. Oder auch die Diktatur der Minderheit, die deswegen nicht immer Recht haben muss.

    Das ganze mit der (reinen) Basisdemokratie könnte auch dann sogar dazu führen, dass am Ende die Menschen sich gegenseitig an den Hals springen, weil in der reinen Basisdemokratie letztendlich jeder verantwortlich ist und schnell dann wohl nur noch eine Frage im Vordergrund steht: Wie hast du abgestimmt? Die Mehrheit kämpft dann gegen die Minderheit und vor allem die Minderheit gegen die Mehrheit, weil die sich übergangen fühlt. Die Ohnmacht richtet sich nicht mehr gegen wenige, sondern gegen viele; nicht mehr gegen Politiker, sondern gegen den Nachbarn. „Du hast dafür gestimmt? Damit bist du am Ende!“ „Du hast dagegen gestimmt? Wir bringen dich um!“

    Ein weiteres Problem, das ich bei einer übertriebenen Basisdemokratie sehe, ist, dass kein Puffer existiert, gegen den sich die Leute wenden oder sich daran abreiben können. Im Moment haben wir die Politik, über die wir uns immer genüsslich auskotzen und schimpfen können. Filz, Entscheidungen abseits des Volkes, Steuerverschwendung, AKWs etc.
    Aber gegen wen Schimpfen wir eigentlich in der Basisdemokratie? Wie die S21-Geschichte gestern gezeigt hat, kann die Sache schnell eskalieren. In einer reinen Basisdemokratie könnte so etwas also schnell zu wirklich bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen, da der Puffer – die Politik als Repräsentant – entfällt. Am Ende heisst das: jeder gegen jeden. „Wenn du nicht für uns bist, dann bist zu gegen uns“.

    Ich sehe die obgen teils geäußerten Meinungen über die moderne Zeit und technische Weiterentwicklung daher eher kritisch, weil sich eben das Wichtigste, die menschliche Natur, kaum verändert hat. Nur weil wir technisch weiter sind, heisst das nicht, das wir es auch mental sind.

    Wir sollten auf jeden Fall versuchen, die repräsentative Demokratie an einigen Stellen zu reformieren. Wir dürfen aber keinesfalls das Kind mit dem Wasser ausschütten.

    Wahrscheinlich haben meine Gedanken mehr Löcher als ein schweizer Käse, aber besser konnte ich es in der kurzen Zeit nicht ausarbeiten.

  28. »Verfahren, die demokratisch vereinbart werden, sind die beste Möglichkeit, um verschiedene widerstreitende Interessen miteinander in Einklang zu bringen«

    Eine theoretische Frage: Wie kann man sich auf ein Verfahren demokratisch einigen? Müsste man nicht erst einmal ein Verfahren finden, wie man sich auf das eigentliche Verfahren einigt? Und ein Verfahren, wie man sich auf dieses Verfahren einigt, usw? Und befindet man sich dann nicht automatisch in einem infiniten Regress?

    1. Hier kommt Max Weber ins Spiel und die größere Chance bestimmter Individuen oder Gruppen in einer sozialen Beziehung seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.

        1. Menschen/Gruppen/Organisationen mit Macht habe eine größere Chance ein Verfahren und seine Spielregeln festzulegen. Das „erste“ Verfahren wird also nicht „demokratisch“, sondern zu einem guten Teil „willkürlich“ von diesen Menschen/Gruppen/Organisationen festgelegt, die über ausreichend Macht dazu verfügen. Dann hat man auch keinen infiniten Regress mehr.

    2. So ist es. Das betrifft aber strenggenommen jede Begründung. Letztbegründungen laufen im wesentlichen immer auf drei Strategien hinaus: Infiniter Regreß (eine nie endende Folge von Begründungen), logischer Zirkel (das zu begründende wird selbst als Begründung vorausgesetzt) oder dogmatische Festlegung (am Ende steht eine unbegründete Begründung).

      Insofern ist vollständige Verfahrensgerechtigkeit natürlich eine Fiktion, und das demokratische Verfahren wird durch grundsätzliche Duldung legitimiert. (Nach 89 haben ja einige Staatsrechtler gegen eine neue, gemeinsamen Verfassung für Deutschland damit argumentiert, daß das Grundgesetz durch seine Akzeptanz und Wertschätzung in der Bevölkerung, auch ohne explizite Volksbeteiligung bei der Entstehung, einen besonders hohen Grad an Legitimität hat, den man nicht ohne Not aufgeben sollte.)

  29. Nachbemerkung: Diese katholische, aber kluge Kritik an der repräsentativen Demokratie ist durchaus emanzipatorisch, auch wenn ihre Theorie noch zwei Mängel hat:
    Erstens: Diese katholische Kritik stellt richtig fest, dass es in der repräsentativen Demokratie nicht nach dem Willen des Volkes geht. Bei dieser negativen Feststellung bleibt die katholische Staatskritik stehen. Sie fragt nicht weiter: Nach wessen Willen geht es denn? Die Gegner von Stuttgart 21 haben bisher versäumt, darauf hinzuweisen, dass dieses Megaprojekt ein „Konjunkturprogramm“ für die Bauwirtschaft ist – je teurer es wird, desto besser für die Baukapitalisten.
    Hier ist die Protestbewegung an anderen Konfliktpunkten weiter als die katholische Kritik. Beim staatlichen „Lohnabstandsgebot“ von HartzIV, bei der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, beim Afghanistankrieg usw. wird längst ausgesprochen, was das Geheimnis der repräsentativen Demokratie ist: Sie ist Erfüllungsgehilfin der Kapitalinteressen.

    Zweitens: Diese katholische Kritik sucht nach Alternativen zur repräsentativen Demokratie. Auch das ist emanzipatorisch. Je mehr direkte Interventionen gegen das Politik- und Entscheidungsmonopol der Staatsdiener (das staatliche Gewaltmonopol entstammt dem staatlichen Entscheidungsmonopol und gehört notwendig zu ihm) praktiziert werden, desto deutlicher wird sich zeigen, dass direkte Demokratie und ein selbstbestimmtes (Arbeits)Leben nicht mit dem Kapitalismus vereinbar ist.
    Die Kapitalvertreter wissen das längst. Bahnchef Grube hatte jüngst im Spiegel sich dahingehend geäußert und festgestellt:
    „Aber wenn Beschlüsse, die in Parlamenten, Gemeinderäten, im Bundestag gefasst werden, nicht mehr zählen, sondern alle Entscheidungen durch Volksentscheide rückgängig gemacht werden können, dann werden Sie in Deutschland keine Investoren mehr finden.“ (Grube im Spiegel 38/2010)

    Die repräsentative Demokratie ist eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts. Da hat Neumann recht. Die repräsentative Demokratie ist aber die politische Hülle des Kapitalismus und Kapitalismus ist auch eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts. Das können auch Leute wie Neumann begreifen lernen.

    Gruß Wal Buchenberg

    http://marx-forum.de/diskussion/forum_entry.php?id=4336

    1. Schon mal in der Schweiz oder in Skandinavien gewesen? Zwei durchaus unterschiedliche, aber im Kern sozialliberal geprägte Regionen mit durchaus unterschiedlich ausgesprägter Demokratie, aber jedenfalls „mehr“. Aber Vorsicht: wirklich hinschauen könnte an der Fundamentalkritik am Kapitalismus kratzen. Natürlich wird „Kapitalismus“ unter den Bedingungen von mehr Demokratie und Grundeinkommen funktionieren. Lediglich halt besser (im Sinn der Menschen) und liberaler (im besten Sinn des Wortes) denn je.

  30. Gruebler gibt zu bedenken:

    „Die Mehrheit muss damit noch nicht einmal wirklich im Recht sein oder eine genügende Faktenlage besitzen. Der Lauteste gewinnt. Oder: derjenige, der am besten mobilisiert. Es geht also am Ende – überspitzt gedacht – nicht mehr um ein Thema, sondern nur um die Frage der Mobilisierung. Wie viele kriege ich auf meine Seite. Schlimmer noch: Eine einmal getroffene Entscheidung kann jederzeit revidiert und die Revidierung dann ebenso wieder revidiert werden. Je nach Gusto und aktueller Stimmung bzw. Mobilisierung.“

    Das sind typische Einwände gegen direkte Demokratie, denen ich in Diskussionen immer wieder aufs neue begegnet bin. Was dabei gern vergessen wird: Dieselben Argumente sprechen gegen Demokratie grundsätzlich. Die genannten Nachteile sind bereits in der jetzigen „repräsentativen“ Demokratie deutlich zu beobachten. Wer am lautesten schreit um am besten mobilisieren kann, gewinnt – Ausdruck dessen ist doch genau das polemische Wahlkampfgetöse, wir wir es alle kennen. Gefällte Entscheidungen können später jederzeit revidiert werden – auch das findet doch sehr offenkundig bereits jetzt statt, siehe ganz aktuell die AKW-Laufzeitverlängerung.

    Hinzu kommt aber der gravierende Nachteil, daß unsere real existierende repräsentative Demokratie noch nicht einmal wirklich das ist, was sie zu sein vorgibt, nämlich repräsentativ. In den Wahlkämpfen können die Parteien behaupten, was sie wollen, sind sie erst einmal an der Macht, sind sie an keine dieser Aussagen in irgendeiner Weise rechtlich gebunden. Diese Beliebigkeit würde man in der Geschäftswelt niemals hinnehmen, da werden Verträge geschlossen, um Verläßlichkeit herzustellen. Derartiges ist in der absoluten Grundlage unseres Staatswesens, das das Volk eindeutig als Souverän festlegt, völlig unbekannt. Noch nicht einmal der Amtseid, den Regierungsmitglieder bei ihrer Einsetzung ablegen, ist einklagbar.

    Selbst Volksentscheide sind immer wieder mißachtet worden, indem das (nominell repräsentive) Parlament einfach nochmals abweichend zur Sache abstimmt und das Volksvotum damit revidieren zu müssen meint. So etwa geschehen beim Volksentscheid zur Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 1998 oder gegen die Krankenhausprivatisierung 2004 in Hamburg.

    Ganz offensichtlich findet faktisch überhaupt keine Repräsentation statt, sondern das als repräsentativdemokratisch gedachte Machtverleihungsverfahren wird mißbraucht, um letztlich diktatorische Politik („unpopulär“ aber „alternativlos“, „zeitgemäß“, „systemrelevant“) zu betreiben, die den Interessen der Mehrheit des Volkes zuwiderläuft und in einer echten Demokratie gar nicht durchsetzbar wären. Der Schein der Demokratie (schließlich finden Wahlen statt) wird dann noch verwendet, um den getroffenen Entscheidungen den Anstrich von Legitimität und Rechtsstaatlichkeit zu geben.

    Der Unterschied zwischen den Ergebnissen, die bei direkten Volksentscheiden einerseits und Parlamentsentscheiden andererseits zu erwarten wären bzw. zu erkennen sind, wird dann oft damit zu rechtfertigen versucht, daß das Volk nicht ausreichend kompetent sei, die Materie zu komplex, das Volk daher leicht verführbar von Demagogen usw., aber genau dieselben Einwände lassen sich sowohl gegen Wahlen wie auch gegen Parlamentsbeschlüsse ebenso vorbringen (in letzterem Fall nehmen Lobbyisten die Rolle der Demagogen ein). Das ist nicht bloße Theorie sondern die Ursache für fast alle politischen Mißstände der Gegenwart.

    1. Danke!

      Eine Anmerkung: was ich für nicht machbar/wünschenswert halte ist Vertreter RECHTLICH an ihre Aussagen vor einer Wahl zu binden. Das geht – jetzt mal abgesehen von der praktischen Durchführbarkeit – in Richtung imperatives Mandat und läuft der Gewissensfreiheit des freien Mandats zuwider.

      Schweizer können über diesen Kmapf rund um #s21 innerlich nur den Kopf schütteln. Sie wissen aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass man solche Konflikte rechtzeitig und im Vorfeld über Volksentscheide entschärft. Es gibt übrigens auch in der Schweiz keine „direkte“ Demokratie in dem Sinn, dass alles direkt über eine „Basis“ liefe. Aber es gibt eben die Möglichkeit korrigierend einzugreifen – und die Erfahrungen damit sind, wenn man sich damit auseinandersetzt sehr gute.

      Ich würde jedem Gegner direktdemokratischer Instrumente in einer Debatte darüber zumindest einmal die folgende Frage stellen: Kannst Du Dir vorstellen, das Volk selbst darüber entscheiden zu lassen, ob es direktdemokratische Instrumente haben will oder nicht? Wenn nein, was meinst Du sagt das über dein Demokratieverständnis aus? Wenn ja: let’s do it.

      (Ich spreche hier aus einer österreichischen Perspektive, einem Land in dem eine rein repräsentative Demokratie in einer weit schärferen Krise ist als in Deutschland, wo es brauchbare direktdemokratische Korrekturinstrumente teilweise bereits gibt.)

  31. Herr Grube war nun auch der Auffassung, man dürfe nicht gegen parlamentarisch-filzomatisch beschlossene Projekte demonstrieren. Man muss ihn wohl nochmal an die Basics erinnern:

    Die Bevölkerung ist der Souverän. „Wir sind das Volk“, und so. Remember?

    Sie, guter Herr Grube, sind ein aufmüpfiger Angestellter von uns. Ebenso Herr Mappus, Rech, etc.

    So, nun haben wir die Situation, dass der Souverän, der Boss, ein Projekt nicht wünscht. Der Souverän sagt danke für die ganze Planung, aber diesen Bahnhof möchte ich nicht.

    Aber einige übereifrige Angestellte schrauben heimlich weiter an dem Projekt. Und als es alles auffliegt, lassen sie die Security dem Boss eins auf die Nase geben. In der irrigen Hoffnung, der Boss werde nun bestimmt von dannen ziehen, und sie einfach machen lassen. Wie soll man solche Leute nennen – „übergeschnappt“? „nicht mehr bei Trost“? Entscheiden sie selbst, Grube.

    Herr Grube, sie leiten ja ein Unternehmen. Was würden sie mit solchen frechen Angestellten machen? Wie, die Kündigung ginge sofort raus, und man sähe sich vor Gericht? Ganz genau.

    Selbst wenn der dämliche Bahnhof „gut“ wäre, was er nicht mal zu sein scheint, selbst wenn es ein Fehler wäre, ihn nicht zu bauen – der Souverän kann nicht dulden, dass ihm aufmüpfiges Personal auf der Nase herumtanzt, und sein Wille ist das einzige, was zählt. Get over it.

  32. Hallo aus Stuttgart,

    anbei ein interessanter Link zu Stuttgart 21 und dem geplanten Durchgangsbahnhof. Hier in dieser Broschüre steht alles, was man zum Thema wissen muss. Einfach den Link kopieren, ins Internet gehen und den Link in die Adressleiste setzen. Dann kann man Blatt für Blatt runterscrollen und die ganze Infobroschüre im Internet lesen:

    http://www.kopfbahnhof-21.de/fileadmin/bilder/stellungnahmen/K21_Altern_zu_S21_4_Auflage.pdf

    Wer die Seiten (und auch den Bericht im Stern vom Do. 30.09.) komplett gelesen hat kann nicht mehr für das Projekt Stuttgart 21 sein! Hier werden einige Lügen und bewusst falsche Grafiken und Unzulänglichkeiten und nicht vorhandene Genehmigungen und Falschinformationen der Projektbefürworter aufgedeckt. Es werden S21 und K21 (der jetzige Kopfbahnhof) gegenüber gestellt, alle Vor- und Nachteile besprochen und miteinander verglichen.

    Bitte sendet diese Email einfach identisch so weiter an alle eure Freunde, Bekannte, Verwandte, Kollegen – bundesweit. Viele Menschen sind (noch) viel zu schlecht oder viel zu oberflächlich informiert. Hier kann sich jeder ein eigenes Bild machen, eine eigene Meinung bilden. Und wird dann verstehen, warum immer mehr Menschen in ganz Baden-Württemberg gegen das sinnlose, schlecht geplante und nicht funktionsfähige, viel zu teure, viel zu komplizierte, viel zu unvariable – und deshalb eben gerade nicht (!) moderne Projekt S21 sind. Und täglich kommen immer mehr Planungsfehler und Unwahrheiten und Mauscheleien ans Licht …

    Liebe Grüße!

  33. Demokratie, repräsentativ, direkt, etc … wo liegt das Optimum? In Kalifornien sieht man wohin direkte Entschiedungen führen können. Das System war zu beginn gut gemeint, aber der Bundesstaat ist heute nahezu unregierbar.

    http://www.nationalaffairs.com/publications/detail/who-killed-california
    Darin findet man einige Informationen zu welchen Problemen es kommen kann. Der Reichtige Weg liegt irgendwo in der Mitte, aber man sollte aus diesem Beispiel lernen.

    1. Ich bin ja gar kein bedingungsloser Verfechter direkter Demokratie; im Gegenteil: Ich denke, daß direkte Demokratie noch mehr als repräsentative institutionelle Schranken braucht. Das Beispiel Kalifornien zeigt in erster Linie ein kaputtes Institutionendesign: Kalifornien ist unregierbar, weil Beschlüsse faktisch nicht mehr aufhebbar sind, und damit widerstreitende Maximalforderungen – viel Geld in die Bildung, Steuern so niedrig wie möglich – nicht in einem Kompromiß gegeneinander abgewogen werden, sondern nebeneinander stehen.

      Und außerdem: auf jedes Mal »Kalifornien« kann man immer wieder »Schweiz« als Gegenargument bringen, ein Musterland der direkten Demokratie und der Haushaltsdisziplin.

  34. Kurze Anmerkung: Dass „S21“ den Focus bürgerlicher Proteste bildet, hat meines Erachtens schlicht mit der unmittelbaren (Be-)Greifbarkeit des Projekts zu tun. Anders gesagt: die Anti-Atom-Bewegung wird erst dann (wieder) den erforderlichen Zulauf erhalten, wenn der nächste Meiler hops gegangen ist …

  35. Die direktdemokratische Schweiz hat übrigens:

    -eine staatseigene Bürgerbahn, Vorbild in Sachen Pünktlichkeit und Sauberkeit
    -Volksabstimmungen über den Bahnhofsumbau in Zürich, der auh viel weniger kostet
    -keinen Mappus, Grube und Konsorten

    Ob es da einen Zusammenhang gibt?

  36. Wo bitte ist das Verfahren demokratisch legitimiert? Weißt du überhaupt, was demokratisch heißt?
    Und Blutvergießen liegt niemals (!) in der Natur irgendeiner Sache!

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