Eins hab ich noch

Einer meiner ersten Artikel im Krokant:

Eins hab ich noch!

Eins ist eigentlich eine langweilige Zahl: völlig eindimensional, einseitig und vielleicht sogar einfältig. Und unpraktisch: auf einem Bein kann man nicht stehen, einmal ist keinmal und als Artikel ist sie allzu unbestimmt. Und trotzdem beginnen mit der Eins die natürlichen Zahlen.

Irgendwie ungerecht.

Oder?

Gerade deswegen ist die Eins nämlich auch ziemlich einzigartig und einmalig. Alle denken an das eine, wollen eins mit dem Universum werden, Allah ist einer und unteilbar, die Kirche die eine heilige und so weiter, ein Mann, ein Wort, ein Ring, sie zu knechten.

Die scheinbar unscheinbare Eins ist also gar nicht so klein und unbedeutend, wie sie scheint für uns Menschen als Individuen, Un-Teilbare, Einzigartige.

Platon legt in seinem »Symposion« dem Dichter Aristophanes die Geschichte von den ursprünglichen Menschen in den Mund: sie seien »Kugelmenschen« gewesen, Doppelwesen. Doch ihre Einheit, ihre Vollkommenheit erregte Zeus‘ Neid, der sie daraufhin in zwei Teile teilte, die beständig einander suchen. So erklärt Platon den eros, das Zueinander-Hingezogen-Fühlen der Menschen, oder, abstrakter: den Wunsch nach Einheit.

Und Platon hat recht: Einheit ist ein besonders emotionaler Begriff, für jeden, außerhalb aller philosophischen Spitzfindigkeit.
1989 war ich sechs Jahre alt; den neunten November habe ich also wenig bewußt miterlebt. Und trotzdem: daß diese »Ein-heit« etwas ganz besonderes ist, habe ich gespürt. Ich wußte nichts von DDR, SED, sowjetischer Besatzungszone – aber daß da etwas ganz besonderes passierte, das habe ich gefühlt – da ging es nicht um Politik oder gar um Großdeutschland (wie es in allzu linken Kreisen kolportiert wird), da ging es um ein ganz grundsätzliches Gefühl.

Einige Jahre später war ich in Taizé, wo ich das erste mal wirklich Glauben spürte: junge Menschen von überall auf der Welt, und trotzdem war da etwas, das alle gemeinsam hatten: eine Lebensmitte.

Und deshalb finde ich die Eins einmalig.

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