Beim Warten auf diese rote Ampel geriet ich ins Sinnieren über Rechtsphilosophie.
Gustav Radbruch war vor dem zweiten Weltkrieg einer der führenden Rechtspositivisten: Recht gilt qua seiner rechtmäßigen Setzung, und in die Rechtsfindung darf nur das gesetzte Recht einfließen, nicht aber dem gesetzten Recht möglicherweise widersprechende Überlegungen zur eigentlichen Gerechtigkeit. Der Bad Godesberger Bahnhof ist der Verkehrsführung nach furchtbar: Aus allen Richtungen Autos, und dort, wo es nicht nach Straße aussieht, kommt dann und wann ein Bus. Auch wenn die Entwicklung von Radbruchs rechtsphilosophischer Position umstritten ist, so ist doch klar, daß er vor 1933 strikt daran festhielt, daß der Richter sich einzig ans gesetzte Recht zu halten hatte. Rote Ampeln sind zu beachten, und es kommt nicht darauf an, ob der Weg frei ist. Nach 1945 hat Radbruch seine Position modifiziert in einem der wohl einflußreichsten Aufsätze der deutschen Rechtsgeschichte: »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, in dem er die später so genannte »Radbruchsche Formel« prägte, die den strikten Rechtspositivismus um ein Einfallstor für die materielle Gerechtigkeit ergänzte: Zwar sind weiterhin Gesetze auch dann zu beachten und allein zur Grundlage der Rechtssprechung zu nehmen, wenn sie dumm, schlecht, ungerecht oder unzweckmäßig sind, es gibt aber einen Ausweg: Unerträglich ungerechte Gesetze sind nicht bindend, und Gesetze, die ihrem Wesen nach nicht einmal darauf abzielen, gerecht zu sein, sind überhaupt kein Recht. (Die Nürnberger Rassegesetzte sind solches rechtsförmiges Nicht-Recht.) Die Ampelschaltung in Bad Godesberg am Bahnhof ist eindeutig und ohne jegliche Frage – jedenfalls für Fußgänger – dumm, schlecht, ungerecht und unzweckmäßig. Während alle Richtungen eine Grünphase und die zu meiner rechten sogar zwei bekommen haben, konnte man gehorsame Menschen hier stehen sehen wie das Gesetz es befahl an der Fußgängerampel, die Auto-Grünphase um Auto-Grünphase rot blieb.
Radbruch als prominenter Vertreter des Rechtspositivismus hat mit dieser Modifikation, die den Einbruch der Gerechtigkeit ins gesetzte Recht legitimierte, einen wichtigen Beitrag für die juristische Aufarbeitung des dritten Reichs geleistet, gehörte doch zur besonders deutschen Perfidie des Nazistaats die explizite Rechts- und Verwaltungsförmigkeit, mit der Unrecht exekutiert wurde. Radbruchs Formel wies die Rechtssetzung der Nazis als völliges Unrecht aus: »das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, [ist] kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben«. Radbruchs Formel rettete die Möglichkeit der Rechtsstaatlichkeit (zu deren Grundsätzen zurecht »nulla poena sine lege« gehört) vor dem Mißbrauch der Rechtsförmigkeit des Unrechtsstaates.
Das ging mir also durch den Kopf, als ich in Bad Godesberg an der Ampel stand und nach – wohl nur gefühlten – fünf Minuten ein Rotvergehen erwog – und schließlich (ich nehme die Spannung weg:) vorsätzlich und (wenn auch nicht sine ira et studio) wohlreflektiert begang. Wohlwissend um den Rechtsstaat und die Bindungswirkung auch der dummen, schlechten, ungerechten und unzweckmäßigen Ampelschaltung. Beim Sinnieren über den Rechtspositivismus ist mir nämlich (ich behaupte im folgenden, nicht nur pragmatisch und egoistisch-autonom, sondern eben wohlüberlegt der roten Ampel keinen Tribut gezollt zu haben) die Parallele aufgefallen zu vielem, was die politische Debatte der vergangenen Jahre geprägt hat: Die Empörung über Großbauprojekte, durch keinen verfahrensmäßig legitimierten Entscheidungsprozeß gekühlt pars pro toto für das Unbehagen am gesetzten Recht. Formal ist wohl alles korrekt mit dieser Fußgängerampel. Aber diese Fußgängerampel schafft es nicht, die affektive Zustimmung zu dem Verwaltungsakt, der sie ihren Standpunkt verdankt, zu erzeugen. Gesetze, so sauber sie auch gesetzt sind, brauchen diese Zustimmung zu ihrer Geltung. Nicht nur ein absolut verwerfliches Gesetz, wie Radbruch es ins Zentrum seiner Ausführungen stellt, kann keine Geltung fordern. Natürlich ist die Ampel nicht Nicht-Recht im moralischen Sinne. Diese Ampel ist aber gerade wegen ihrer gedankenlosen Rechtsförmigkeit, die Gehorsam heischt obwohl in ihrem Bau die Verkehrsteilnehmenden zu Fuß völlig egal sind – aus dem Verkehrsgeschehen unter Gleichen also herausgenommen sind (erschwerend, da gerade im Verkehr diese Fiktion wichtig ist, wo Fußgängerinnen und Radfahrer doch ihrer Zerstörungskraft und Verletzlichkeit nach umso mehr auf eine gerechte und angemessene rechtliche Würdigung angewiesen sind als Autos) – diese Ampel als in wörtlichem Sinne gesetztes Recht also ist ein Problem für die Rechtlichkeit überhaupt. Denn die Konsequenz ist klar: Wenn ich in dieser Form der Rechtlichkeit sichtlich nicht nur nicht mitgedacht, sondern durch die doch wohl bewußt gestaltete Ampelfolge als irrelevant und dem motorisierten Verkehr inferior markiert werde: Dann ist es doch völlig klar, daß ich – trotz der anfänglichen Bereitschaft zur Rechtstreue – im letzten Moment mich der zivilisierenden Fessels des Rechts entledigt habe und (mit festem Blick in die Augen des gegenüber wartenden Vaters mit dem Kind an der Hand) den leeren, aber nicht freigegebenen Überweg betreten habe. Just zur Hälfte knickte die Ampel ein und wurde grün. I fought the law, and the law lost.
Dazu fallen mir zwei kurze Sätze ein:
1.) “Regeln sind dazu da, dass man nachdenkt, bevor man sie bricht” (T. Pratchett, glaub ich). Ist zwar juristisch schwer zu halten, aber sehr alltagstauglich.
2.) “Wer Respekt erzwingt, unterwirft.” Steht zur Zeit am Jenaer Rathaus.
Dass allerdings tatsächlich ein Kind anwesend war, erzeugt in mir (als Vater) einen gewissen Unmut dir gegenüber. Kinder können eben noch nicht komplett nachdenken und auch nicht deinen Gedankengang nachvollziehen. Andererseits kann ich das bei Leuten, die bei Rot gehen, auch meinen Kindern gegenüber auffangen.