In den aktuellen Stimmen der Zeit (Nr. 5 2014, S. 303–312) ist ein schöner Artikel von Christian M. Rutishauser SJ, »Religion und Aufklärung«, der klug durch die Bedeutung von Glaube und Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft mäandert. Eine Beobachtung über Religion und Ethik ist zu schön, um sie ganz ungooglebar zu belassen:
Ethik ist zuerst im Alltag gefragt, und Religion darf keinesfalls auf Ethik reduziert werden. Der Kurzschluss, Christsein sei ethisch verantwortetes Handeln, hat seit dem Zeitalter des Idealismus und der kleinbürgerlichen Staatserziehung unzählige Menschen drangsaliert. Sie wurden von Idealen erschlagen und fielen in Erstarrung. Schuldgefühle entwickelten sich. Nicht nur im protestantischen Christentum, auch im römisch-katholischen Milieu wirkte sich die Moralisierung verheerend aus. Es wurde kleinkariert legalistisch gedacht.
Eine herrliche Paradoxie: Ausgerechnet die Ethik schlägt um in Drangsalierung – nichts Unbekanntes, der Tugendterror der Jakobiner klingt an. Eine schöne Paradoxie, die gut zu dem paßt, was ich schon länger denke: Der Akribie muß Oikonomia beigestellt werden. Oder noch besser: Ein Lob dem prinzipienstarken Relativismus des Liberalismus, der gelten läßt und anerkennt, was gelten läßt und anerkennt, anstatt in Rekurs auf fragwürdige essentialistische Natur-, Wesens- und Eigentlichkeitsbegriffe zu sagen, wie und wie nicht alles zu sein hat. Rutishauser hat recht: Kaum etwas ist so verheerend wie Moralismus. Dilige et quod vis fac.