Audimax. Das KHG-Orchester gibt »Der gerettete Alberich« von Christopher Rouse und Mahlers vierte. Soweit, so zivilisiert. Mehr oder weniger gut gewandete Menschen, Musiker in schwarz – aber im Publikum ein etwas abgerissen aussehender Mann. Um den Kopf ein Tuch als Stirnband gewickelt, Kniebund-Wanderhosen, wilde Frisur, mitten auf dem Boden sitzend. Dann und wann turnt er auf den Tischen und Klappsitzen herum, albert mit einem kleinen Kind herum – alles reichlich ungelenk (ob durch Drogen oder Behinderung: ich weiß es nicht).
Jedenfalls – da er auch reichlich laut dabei ist – wird er gebeten, zu gehen. Aufruhr; er beklagt sich lauthals, rennt durchs Audimax, es kommt fast zu einer Schlägerei. Man weiß nicht, wem die eigenen Sympathien gehören: Dem offensichtlich nicht Zurechnungsfähigen, der nur deshalb vom Konzert entfernt werden soll, oder den Leuten, die ihn um des restlichen Publikums willen draußenhaben wollen.
Das Publikum indessen weiß nicht, wie es sich verhalten soll. Vereinzelt Lachen – aber die meisten haben wohl bemerkt, daß das nicht nur eine interessante Pausenattraktion ist, sondern (man verzeihe mir den Pathos) sehr grundlegend einiges hinterfragt. Sobald nur ein einziger sich nicht an die Konventionen hält, bricht unser schöner zivilisierter Elfenbeinturm zusammen – und mit einen Schlag sind wir wieder bei der Frage nach Legitimierbarkeit von Ethik. Da ergibt sich, daß Moral-Predigen leicht, Moral-Begründen schwer ist. (Schopenhauer, »Über den Willen in der Natur«)