Ionescos Klingonen. Beobachtungen zu Star Trek: Discovery

Lycosthenes, Rhinoceros
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Endlich wieder Star Trek in der eigentlichen Darreichungsform: Als Fernsehserie. Nach den ersten beiden Folgen bin ich optimistsch. Mit »Enterprise«, der seltsam aus der Zeit gefallenen Vorgängerserie (für mich fühlte sie sich immer an wie eine Kopie von TNG-Monster-of-the-week-Folgen, nur mit blasseren Charakteren), und den JJ-Abrams-Filmen (mit allzu glattgebügeltem Action-Reboot) konnte ich nichts anfangen. Discovery wirkt zunächst zeitgemäß: Story Arc statt Monster of the week, eine zeitgemäße Ästhetik, Zeit zum Erzählen. Discovery ist aber auch Star Trek: Ein wenig Vertrautheit mit dem Stoff hilft beim Verständnis (Kahless, Sarek, die vulkanische Kultur werden nicht eingeführt); kleine Details (die Geräusche in den Raumschiffen, die optisch überhaupt nichts mit den bekannten dieser Ära aus TOS und ENT zu tun haben; der Klappkommunikator; die pistolenförmigen Phaser) verankern auch die auf Stand gebrachte Ästhetik im Serienuniversum. Ionescos Klingonen. Beobachtungen zu Star Trek: Discovery weiterlesen

Ba©h ist Bach: Das offene Wohltemperierte Klavier ist erschienen

Cover: Kimiko Ishizaka: Open Welltempered Clavier
Nicht nur im Netz, auch klassisch auf Trägermaterial zu erhalten.

Kimiko Ishizakas freie Aufnahme des ersten Buchs des Wohltemperierten Klaviers ist erschienen – und sie ist großartig geworden. Vor anderthalb Jahren habe ich zum crowdfunden aufgefordert, jetzt ist alles da: die freien Aufnahmen unter einer CC0-Lizenz, vom Urheberrecht befreite digitalisierte Notenblätter, die damit auch einen wichtigen Schritt in Richtung Barrierefreiheit machen.
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Der Preis der christlichen Leitkultur

Nein, es geht hier nicht um den Preis der christlichen Leitkultur, den diejenigen zu zahlen haben, die nicht dazugehören. Mir geht es um den Preis, den die christlichen Kirchen (das »jüdisch« in »jüdisch-christlich« ist bestenfalls Kosmetik) zu entrichten haben. Das Christentum gehört zu Deutschland – und zwar de jure und de facto anders und mehr als etwa der Islam zu Deutschland gehört. Nicht im Kontext einer Integrations- und Leitkulturdebatte, sondern auf rechtlicher Ebene: Staatliche Feiertage sind mit christlichem Namen und Termin installiert, trotz Verfassungsgericht macht sich der Staat das Kreuz zum Symbol in Klassenzimmern und Ämtern, das Staatskirchenrecht paßt sichtlich primär auf die rechtsförmige Organisation der christlichen Kirchen.

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… jedes ß ein Protest gegen die Hybris staatlicher Allzuständigkeit

Auf Formspring.me wurde ich gefragt, warum ich in alter Rechtschreibung schreibe. Da das etwas länger ist, landet die Antwort hier im Blog.

Ich schreibe nicht nach alter Rechtschreibung, jedenfalls nicht in strenger Obödianz des Altschreib-Dudens letzter Hand (das ist die 20. Auflage von 1991 – habe ich schon mal erwähnt, daß ich Rechtschreibduden sammle?). Wenn ich vorgebe, nach Regelwerk zu schreiben, dann verweise ich auf den Ickler – Normale deutsche Rechtschreibung. (Und damit meine Rechtschreibung nicht deformiert wird, wende ich, wo neue verlangt wird, einfach die neue ß-Regelung an. Merkt niemand.)

Dahinter stecken zwei Gründe: Es ist mir zuwider, wenn staatliche Macht in die gesellschaftliche Sphäre übergriffig wird. Es ist schlicht nicht in der Kompetenz des Staats, die Rechtschreibung zu regeln. Und ich halte eine nach gewachsenen ästhetischen Regeln normierte Sprache (bzw. ihre Verschriftlichung) für der Sprache angemessener als eine am Reißbrett erfundene Planorthographie.
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Bushido, der Tod des Autors und seine Auferstehung

Auch wenn’s den Richtigen trifft: Das Urteil gegen Bushidos Samplingpraxis zeigt wieder einmal die Differenz zwischen Recht und Kunst, und wie das Recht die Kunst behindert und formt.

Die Reaktionen sind erwartungsgemäß einhellig schadenfroh, nachdem Bushido sich mit aggresivem Verfolgen seiner Rechte durch Abmahnungen unbeliebt gemacht hat – derselbe Bushido, der sich damit brüstet, im Bedarfsfall gerne auch mal Uhren zu klauen. Immer wieder ist auch zu lesen, daß Bushido ja ohnehin ein minderwertiger Künstler sei.

Und richtig: Bushido ist kein Grandmaster Flash. Bushido könnte aber auch gar kein Grandmaster Flash sein: Hiphop, wie er entstanden ist, ist aufgrund der immer restriktiver verregelten Ideologie vom absoluten geistigen Eigentum nicht mehr möglich.
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Die schale Freiheit der Slipeinlage. Notizen zu Vader Abraham

Via Kristian Köhntopp erreicht mich eine musikalische Unglaublichkeit, die in ihrer »herausragenden OMFGigkeit« Gunter Gabriels von mir sehr geschätztes Radiohead-Cover »Ich bin ein Nichts« um ein Vielfaches übersteigt: Vader Abraham singt »Wenn die Slipeinlage nur gut sitzt«.

Man könnte denken, es handle sich bloß um einen abgeschmackten Herrenwitz, der sich im verwegen-pubertären Aufrufen von Tabus beschränkt. (Der abgeschmackte Herrenwitz ist die karnevaleske B-Seite »Es lebe die Slipeinlage«.) Tatsächlich ist das Stück in Form und Inhalt ein beachtliches Sittengemälde einer Gesellschaft, die Sauberkeit und Planbarkeit zu ihren Götzen erhoben hat.
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Die EU-Maultasche kolonialisiert die Lebenswelt

Die Schwäbische (Suppen-)Maultasche ist nun offiziell als regionale Spezialität unter den Schutz der EU gestellt. Die Presse feiert das einhellig, gemeinsam mit dem baden-württembergischen Landwirtschaftsministerium. Dabei ist der Sachverhalt hochproblematisch: Nicht nur der schwäbische Imperialismus, der überall mitklingt, auch eine zweifelhafte Ausweitung von künstlich geschaffenen Exklusivrechten und die Mentalität, die daraus spricht, sollte hinterfragt werden.
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Aber er hat doch »Der Pianist« gedreht!

Als Sideshow-Bob der Prozeß gemacht wird, findet man auf seiner Brust »Die Bart, die!« eintätowiert:

Lawyer: But what about that tattoo on your chest? Doesn’t it say, “Die Bart, Die?”
Bob: [conciliatorily] No, that’s German for “The Bart, The.”
[The spectators laugh, understanding]
Officer: No one who speaks German could be an evil man.

So ähnlich kommen mir die Medien im Fall Roman Polanski auch vor: Niemand, der »Der Pianist« gedreht hat, kann ein schlechter Mensch sein. Bizarr finde ich, daß gerade Leute, die sonst für einen strikt rechtsstaatlichen Kurs stehen, plötzlich meinen, eine »Justizposse« diagnostizieren zu müssen. Aber er hat doch »Der Pianist« gedreht! weiterlesen

Klientelwirtschaft statt Open access

Das Interview im Deutschlandradio Kultur mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann klingt beim Anhören recht harmlos; es geht ja nur um sein Steckenpferd, die Filmförderung. Zusätzlich zur Steuerfinanzierung wird über ein umfangreiches Gebührenprojekt – Zwangsabgaben von Kinos, Verleihern, Rundfunk – Geld erwirtschaftet, das dann zur Filmförderung eingesetzt wird.

Daß auf diese Weise politisch Erwünschtes gefördert wird, ist übliche politische Praxis. Immerhin: Film ist nicht mehr das böse Medium, sondern wird auch kulturpolitisch anerkannt.

Das Gespräch schlägt dann aber eine interessante Richtung ein: Urheberrecht. Von »Raubrittertum« ist die Rede, der Kulturstaatsminister ist sehr besorgt: »[…] wir sind noch nicht in einem Zustand, der geistiges Eigentum voll schützt.« Was also tun?

Hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Zum einen die Möglichkeit, dass man Vergehen ahndet, und das geht so, dass man sich zusammensetzt, dass man über freiwillige Vereinbarungen mit den Providern – ähnlich wie das in anderen Ländern schon angedacht und teilweise praktiziert ist – kommt. Darüber hinaus muss man alles unterstützen, was neue Verwertungsmodelle ausmacht.

Ein bemerkenswerter Satz: Ahndung über »freiwillige Verträge« mit Providern. Kennt man schon. Über die Inhalte dieser Verträge schweigt sich Neumann aus: Die Verwendung von Verbindungsdaten für die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche? Verletzung der Netzneutralität?

Auch was »neue Verwertungsmodelle« meint, erwähnt der Kulturstaatsminister nicht. (DRM?)

Eine Sache scheint für ihn aber selbstverständlich zu sein: Der Staat reicht Geld an Wirtschaftsunternehmen weiter, das er über Steuern und Zwangsabgaben eingetrieben hat, ähnliche Modelle werden diskutiert (im Interview auch explizit die Zwangsabgabe Kultur-Flatrate, wenn er auch dagegen ist), aber an den Kern geht er nicht: Warum ist es selbstverständlich, daß Dinge, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, der Öffentlichkeit nur unter erneuter Bezahlung wieder zugänglich gemacht werden?

Neumann: »Darüber hinaus muss man alles unterstützen, was neue Verwertungsmodelle ausmacht.« Dabei wäre es so einfach: Subventionen nur unter der Bedingung, daß das Werk unter eine Lizenz im Stil von Creative Commons by-nc-sa veröffentlicht wird: Weitergeben und remixen ja (es ist öffentlich finanziert, also sollte es öffentlich benutzbar sein), keine kommerzielle Verwendung (immerhin zieht man ja die Kommerziellen der Branche, Kinos, Verleiher …, zur Finanzierung heran), und schon hat man ein prima Verwertungsmodell.

Über solche Fragestellungen redet man aber nicht, wenn man in Ulrike Timm eine Gesprächspartnerin hat, die permanent Begriffe wie »Raubrittertum« ins Gespräch bringt und für die Kulturförderung nicht Förderung von Kultur, sondern der Wirtschaft ist: »Die schönste Förderung, die nützt ja nichts, wenn man sich den Film anschließend für nichts als Raubkopie beschaffen kann oder aus dem Internet ziehen.«

(Übrigens: Wenn Neumann so etwas sagt: »Ich möchte das tun als Politiker, was der Wirtschaft hilft« – dann ist das eines ganz sicher nicht: liberal. Das ist Klientelwirtschaft.)

Disclaimer: Trotz Namensgleichheit bin ich mit Bernd Neumann weder verwandt noch verschwägert. Meines Wissens.

Gekommen um zu bleiben? Piraten politikwissenschaftlich.

Bleibt die Piratenpartei bestehen? Aus politikwissenschaftlicher Sicht sehe ich zwei Aspekte, die es zu bedenken gilt: Paradigmenwechsel und Konfliktlinien.

Die Digital-natives-These stützt die Annahme eines Paradigmenwechsels: Wer mit dem Netz großgeworden ist, hat einfach einen völlig anderen Erfahrungshintergrund und bewertet vieles völlig anders – so wie heute Platons Kritik an der Schriftlichkeit im Phaidros bestenfalls noch nachzuvollziehen ist, aber niemand die These auch nur ernsthaft erwägen würde.

Konfliktlinien nimmt man traditionell (Cleavage-Theorie nach Lipset und Rokkan), um Parteientstehungen zu erklären: Säkular–klerikal, Stadt–Land, Arbeit–Kapital, Zentrum–Peripherie. Die deutsche Parteienlandschaft kann man wunderbar anhand solcher Konfliktlinien erklären.

In Kombination heißt das dann: Die Piratenpartei hat dann keine Zukunft, wenn die Paradigmenwechselthese völlig zutrifft. Dann übernehmen die etablierten Parteien auch Piratenstandpunkte, sobald ihre Protagonisten jung genug sind. Die Piratenpartei bleibt ein Intermezzo.

Solche Effekte sieht man bei FDP und Grünen: die SPD mit ihrer Neuen Mitte und die CDU mit ihrem Leipziger Programm haben zu einer schwächeren FDP geführt, und wenn Umweltthemen Mainstream werden, führt das dazu, daß die Grünen nicht allein darauf setzen können. (Das führt dazu, daß FDP und Grüne verstärkt sich auf der Konfliktlinie Freiheit–Sicherheit profilieren, die nicht zum klassischen Set von Lipset und Rokkan gehört. Was passiert, wenn die für die Grünen postulierte Konfliktlinie postmaterielle vs. klassische Werte weniger wichtig wird, da die Postmateriellen ein im Rückgang begriffenes Leitmilieu sind, steht in den Sternen.)

Die Piratenpartei kann dann Erfolg haben, wenn sich eine Konfliktlinie findet, die für die Öffentlichkeit hinreichend interessant ist. Das kann Freiheit–Sicherheit sein (dort aber eben mit der großen Konkurrenz durch die etablierten kleineren Parteien), die etwa im Bereich Urheberrecht ausbuchstabiert werden muß: Wenn dieses Problemfeld geschickt transportiert ist, wenn die kulturelle Dimension von Remixes und Mashups transportiert wird, wenn die Relevanz für den Normalbürger deutlich gemacht wird, sehe ich hier eine Konfliktlinie, die erhalten bleibt. Das Interesse der Content-Verwertungsindustrie und die absolute Geltung geistigen Eigentums (Sicherheit) einerseits , die Interessen der Öffentlichkeit, Kunst und Wissenschaft (Freiheit) andererseits.

Dumm nur, daß die Kulturschaffenden das selbst noch nicht begriffen haben, wie der Heidelberger Appell zeigt. Denen müßte man klarmachen, daß Open access, Remix und Mashup kein neumodischer und gefährlicher Blödsinn ist, sondern in ihrem ureigensten Interesse ist. Goethes Faust (Manns Dr. Faustus), die Dreigroschenoper, Merz-Kunst, Kempowskis Echolot: Alles Remixes.

Nachtrag: War ja klar, daß andere die Idee auch schon hatten: Entern die Piraten die Parteienlandschaft? bei Blog ohne Namen und Piratenpartei: Träumt weiter! bei untergeek.