Die EU-Maultasche kolonialisiert die Lebenswelt

Die Schwäbische (Suppen-)Maultasche ist nun offiziell als regionale Spezialität unter den Schutz der EU gestellt. Die Presse feiert das einhellig, gemeinsam mit dem baden-württembergischen Landwirtschaftsministerium. Dabei ist der Sachverhalt hochproblematisch: Nicht nur der schwäbische Imperialismus, der überall mitklingt, auch eine zweifelhafte Ausweitung von künstlich geschaffenen Exklusivrechten und die Mentalität, die daraus spricht, sollte hinterfragt werden.

An sich ist die Maultasche (trotz putzigem Gründungsmythos) nichts besonderes. Jeder Kulturkreis, der etwas auf sich hält, hat gefüllte Teigtaschen, ob sie nun Baozi, Bapao, Buuz, Chinkali, Dim Sum, Empanada, Frühlingsrolle, Gyoza, Jabba, Jiaozi, Kärntner Nudel, Khuushuur, Kreplach, Mandu, Manti, Pelmeni, Pirogge, Ravioli, Samosa, Schlutzkrapfen, Tortellini, Tortelloni, Uszka, Wan Tan, Wareniki oder eben Maultaschen heißen.

Aber aus der verweigerten Einsicht, daß man selbst so besonders nicht ist, erwächst ja gerne Nationalismus und Chauvinismus. Schon die Sprache ist gruselig: Da gründet sich eine Schutzgemeinschaft »Schwäbische Maultaschen«, der Landwirtschaftsminister spricht vom »Flaggschiff der schwäbischen Kulinaristik« und davon, wie die autochthone Maultaschenkultur so zur Leitkultur wird, damit »nicht jeder herkommen kann und sagt: ›Ich mache das jetzt auch so.‹« Nationalistische Diktion auch in den Überschriften: »Die Maultasche bleibt schwäbisch« (analog: »Südtirol bleibt deutsch«), oder gar »Hände weg von den Schwäbischen Maultaschen« (ersetze probeweise »Schwäbischen Maultaschen« durch »deutschen Mädchen«!). Die führende Maultaschenmaschine heißt »Maultaschen-Blitz«, eine Bezeichnung, die genausogut die EU-Frechheit hätte bezeichnen können, mit der im Amtsblatt im Handstreich die geographische Region »Schwaben« als »compris[ing] all of Baden-Württemberg« definiert wird.

Aber verletzte badische Heimatliebe beiseite: Das eigentlich schlimme daran ist, wie Marken-, Patent-, Urheberrecht und verwandte Rechtsbereiche sich breitmachen. Der Bericht auf der Kinderseite des Trierer Volksfreund ist entlarvend:

Wenn Leute etwas verkaufen, wollen sie oft nicht, dass auch andere damit Geld verdienen. Sie möchten nicht, dass jemand ihre Idee klaut. Deshalb versuchen sie, ihre Idee oder den Namen dafür, schützen zu lassen. Das kann auch bei Essen so sein.

Natürlich wollen »die Leute« das nicht. Aber nur, weil die Leute das nicht wollen, ist das noch keine Legitimation für einen rechtlichen Eingriff. Ein kluger Aphorismus von Antje Schrupp entlarvt dieses Verständnis: »Wer sein geistiges Eigentum schützen will, muss seine Ideen einfach für sich behalten.« Information wants to be free.

Wir haben es hier mit (um mit Habermas zu sprechen) einer Kolonialisierung der Lebenswelt zu tun. Die Handlungslogik der politischen Macht ersetzt die übliche kulturelle Handlungslogik, die etwa eine Maultasche nicht als Rechtsgut, sondern als Nahrungsmittel (und damit ihrer Natur nach nicht rechtsförmiger Kasuistik zugänglich) ansieht. Ähnlich gelagert ist auch der Fall Jack Wolfskin: Es ist absurd, daß über das Markenrecht Teile der Natur einem privaten, exklusiven Zugriffsrecht unterworfen werden können, die ihrer Natur nach nicht knapp sind. Ein herrschaftsfreier Diskurs ist dann nicht mehr möglich, wenn Begriffe derart monopolisiert und verrechtlicht werden.

Die Bezeichnung »Schwäbische Maultasche« erhält ihre Legitimität nicht durch die hochherrliche Sanktion eines Brüsseler Beamtenapparats, der sich zum Genußkommissar aufspreizt, sondern aus ihrem Gebrauch. Wenn man Maultaschen einer bestimmten Machart als Schwäbische Maultaschen bezeichnet, dann sind es Schwäbische Maultaschen, auch wenn man sie in Berlin, Caracas oder Addis Abeba herstellt. (Und umso mehr, als da die EU-Herkunftsbezeichnung »g. g. A.« hochgradig willkürliche Regeln konstruiert.) Wenn man behauptet, die Schwäbischen Maultaschen seien »in Schwaben hergestellt«, dann braucht es dazu auch keine gesonderte rechtliche Behandlung: Ordinäres Vertragsrecht genügt. Die Möglichkeit eines Vertrags über Maultaschen, die »in Schwaben hergestellt« sind, besteht für jedermann, ebenso wie die Möglichkeit besteht, einen Vertrag über Schwäbische Maultaschen zu schließen, die aber anderswo produziert wurden. (Hier zeigt sich wieder einmal, warum gerade Liberalismus sozial ist: Eine Monopolisierung des eingebürgerten Begriffes, die Schaffung eines Schwäbische-Maultaschen-Kartells schließt Menschen vom Genuß Schwäbischer Maultaschen aus, die sich zum Beispiel nur nichtimportierte Schwäbische Maultaschen leisten können, zumindest erhöht er aber ihre Transaktionskosten, da auf der Packung nicht mehr stehen darf, was drin ist – Schwäbische Maultaschen – sondern eine künstliche Umschreibung.)

Nicht genug: Eine politische wie kulturelle Mentalität zeigt sich. Einerseits gibt es eine Auflehnung gegen das Moderne, das Technisch-Rationale, eine Sehnsucht nach dem Echten, Wahren, Natürlichen: »Chemie« ist böse, Homöopathie ist gut. Dreck wird wertvoll, indem man ihn zu authentischem Himalaya-Salz adelt. Gegen ein Übermaß an Künstlichem wird ein idealisiertes Bild des Authentischen gestellt. Dem korrespondiert nun der paradoxe Wunsch, daß das Authentische gerade per Satzung (und damit künstlich, gerade nach dem technisch-rationalen Paradigma der Ordnung und Systematisierung) verbürgt wird. Der Wunsch nach einer Verrechtlichung des Natürlichen, gegen die Anarchie und mangelnde Authentizität der unverrechtlichten Lebenswelt.

Dem Primat des Authentischen wird so ein neues Wahrheitsverständnis gegenübergestellt. Nicht mehr: Wahr ist, was ist (etwa mit der griechischen Antike, die im Sein die Wahrheit erkannte), nicht mehr: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Sache und Begriff (die adaequatio intellectus et rei Thomas’ von Aquin), sondern: Wahr ist, was offiziell ist.

»Offiziell« im Wortsinn: Was nicht von Amts wegen sanktioniert ist, gilt nichts. Daß die Schwäbische Maultasche ihre Legitimität aber nicht aus einem Verwaltungsakt bezieht, sondern aus sich heraus, aus ihrer Tradition heraus: Das geht verloren. Die Schwäbische Maultasche als Kulturgut ist nicht Sache der politischen Sphäre, sondern der gesellschaftlichen. Authentisch ist gerade nicht, was eine EU-Bürokratie im Amtsblatt als authentisches Rezept festschreibt – sondern was jeder schwäbische Hausmann, jede schwäbische Köchin in der Maultasche versenkt.

(Unter der neuen Regierung ist übrigens keine Besserung zu erwarten.)

5 Gedanken zu „Die EU-Maultasche kolonialisiert die Lebenswelt“

    1. Ach, Herr Deichranger, bis eben war mein Artikel noch der einzige Blogbeitrag außerhalb einschlägiger Kulinaria-Seiten, der nicht auf halber Strecke auf wohlfeile Empörung über sozialen Maultaschenkahlschlag umgeschaltet hat. Darf ich zur Lektüre die FAZ empfehlen, die in der Kolumne »mein Urteil« sich mit diesem Fall beschäftigt?

      Ansonsten, zur Verwirrung um das handelnde Organ: Hier sieht man sehr schön, wie absurd die EU strukturiert ist: Eine immer noch in weiten Teilen nur als Marionettenparlament agierende Kammer und eine allmächtige Verwaltung (die Kommission), die noch dazu als einzige Initiativrecht hat! (Was, wie mir vor kurzem ein Kommissionsbeamter erzählte, auch gut so sei, sonst könnte ja jeder, am Ende sogar dieses Parlament (!), Gesetze einbringen!)

  1. Das ist wirklich unglaublich, was manche Bürokraten sich da einfallen lassen. Dabei ist es doch letztlich egal, jeder isst die Maultaschen, die er mag oder sich leisten kann.

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