Mehr als Autofahrerpartei auf der Datenautobahn

Außer dem Zitat von den Piraten als Autofahrerpartei der Netze wurde (mit Ausnahme einer kurzen Einschätzung bei netzpolitik.org) bisher wenig zur Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Piratenpartei gesagt. Ich habe mir die Studie etwas genauer angesehen.

Das Fazit vorab: Deskriptiv ganz in Ordnung, politikwissenschaftlich und soziologisch zu wenig ausgeführt. Das größte Versäumnis der Studie ist es, zu sehr auf der Inhaltsdimension zu beharren – und ein völlig fehlendes Verständnis für die Besonderheit der Struktur der Piratenpartei.
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Die EU-Maultasche kolonialisiert die Lebenswelt

Die Schwäbische (Suppen-)Maultasche ist nun offiziell als regionale Spezialität unter den Schutz der EU gestellt. Die Presse feiert das einhellig, gemeinsam mit dem baden-württembergischen Landwirtschaftsministerium. Dabei ist der Sachverhalt hochproblematisch: Nicht nur der schwäbische Imperialismus, der überall mitklingt, auch eine zweifelhafte Ausweitung von künstlich geschaffenen Exklusivrechten und die Mentalität, die daraus spricht, sollte hinterfragt werden.
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Digital divide beim Bilderarchivieren

KjG 1987: Mit Soldaten über Kriegsdienstverweigerung diskutieren.
KjG 1987: Mit Soldaten über Kriegsdienstverweigerung diskutieren. Rechte: KjG-Diözesanverband Freiburg

Dieses Wochenende trifft sich der Förderverein der KjG Freiburg, um das Bilder-Archiv einzuscannen: Bilder und Dias von 1984 bis zur Durchsetzung der Digitalkamera, allesamt bestenfalls nach Film und Veranstaltung sortiert, viele Doppelte und einiges Unscharfes.

Die Teilnehmer sind alle zwischen Ende 20 und Ende 30, hälftig eher pädagogisch orientiert, hälftig IT-affin.

Der Digital divide schlägt voll zu: Die Pädagogen wollen Bilder aussortieren nach Motiv, Relevanz und Qualität, alles sauber in Kategorien sortieren. Wenn man das nämlich nicht machen würde, würde die Datenbank furchtbar unübersichtlich und unbenutzbar, und überhaupt, wer braucht schon zwanzig Bilder vom selben Kirchturm?

Die nicht unbedingt vom Lebensalter, aber vom Hintergrund her Digital natives gehen das völlig entspannt an: Alle Bilder einscannen, erstmal völlig inhaltsblind, zwar noch nach Veranstaltung sortiert, aber gerne auch Dubletten und scheinbar Unnötiges: Speicherplatz kostet ja nichts mehr, die verwendete Software kann Tagging, also alles kein Problem. Wer weiß, ob wir die Bilderserie mit der Makramee-Eule aus den 80ern nicht nochmal brauchen?

Ein völlig unterschiedlicher Zugang zu Wissen: Hier ein genuin moderner – alles hat seine Ordnung, Relevanzkriterien sind rational zu konstruieren. Dort ein postmoderner: Relevanz wird allein durch Kontext erzeugt.

Klassengesellschaft

Zu den interessantesten Gebieten der Soziologie gehört meines Erachtens die Richtung, die sich mit der Etikette auf dem Dorfe beschäftigt, insbesondere der feinziserlierten Theorie der Anrede.

Diese Woche wurde in unserem Pfarrblatt den Firmkatecheten gedankt. Dabei gibt es anscheinend drei Klassen:

  1. Personen sui iuris, die das Privileg haben, Frau oder Herr N.N. zu sein.
  2. Personen sui iuris partialiter, die zwar (noch) nicht das Epitheton ornans »Frau« oder »Mann« haben, dafür einen Vornamen.
  3. Personen sine iure, die nur als Anhängsel ihrer Eltern vorkommen: Frau N.N. und Tochter N.

(Meine Schwester ist zum Beispiel Klasse 2, und dann gibt es noch den interessanten Fall einer Dame, die per Klasse 1 angesprochen wird, deren Tochter per Klasse 3 erwähnt wird, deren Sohn es jedoch immerhin zu Klasse 2 gebracht hat.)

Sozialkapital

Daß Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist (neumodisch heißt das »spiritual capital«), galt lange als gesichert, und keine Sonntagsrede (auch meine nicht) kommt ohne den alten Böckenförde aus.

Im aktuellen Journal of Religion and Society allerdings wird versucht, diese These zu widerlegen. Cross-National Correlations of Quantifiable Societal Health with Popular Religiosity and Secularism in the Prosperous Democracies nennt Gregory S. Paul seinen Artikel.

Ohne die empirischen Daten überprüft zu haben, sehe ich da einiges Potential für Kritik:

  • Der Autor versteht mal wieder Kardinal Schönborn falsch, der eben nicht die Evolution anzweifelt und Redneck-Hillbilly-Kreationismus predigt, sondern nur das sagt, was selbstverständlich allen (?) Christen gemeinsames Glaubensgut ist: Gott hat die Welt erschaffen. Was danach technisch passierte und wie, darüber muß die Bibel gar keine Aussage machen. Deshalb alle Christen unter das pejorative Label »Kreationist« zu packen (cf. dort Fußnote 1), mag technisch zulässig sein, wirft aber ein eindeutiges Licht auf die Vorurteile des Autors – auch unter Christen ist der methodische Atheismus als notwendig akzeptierte Forschungsgrundlage unumstritten.
  • Im wesentlichen scheint es darum zu gehen, zu belegen, daß die USA eben nicht die leuchtende Stadt auf dem Hügel ist – ein ehrenwertes Ziel: man kann nur jeden darin bestätigen, der den Evangelikalen die Bigotterie vorhält, für die Todesstrafe (am besten noch bei Minderjährigen und geistig Behinderten), Abtreibungsgegner (am besten noch mit Anschlägen auf Abtreibungskliniken) und NRA-Mitglied zu sein. Den desolaten Zustand der amerikanischen Gesellschaft (den der Autor unter anderem mit Mord- und Selbstmordraten operationalisiert) aber auf die Religiosität dort zu beziehen, scheint mir bestenfalls gewagt. Es wird zwar selbstkritisch auf kompliziertere Funktionen verzichtet, um die Korrelation nachzuweisen, als Gegenprobe hätte man sich aber doch noch angeboten, die Sozialsysteme den Indikatoren für die desolate Gesellschaft gegenüberzustellen.
  • In armen und wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern gibt es stärkeren Glauben. Folgerung: Wer weniger gläubig ist, ist wirtschaftlich erfolgreicher. Der ursächliche Zusammenhang wird nicht bewiesen (daß die USA ohnehin ein Sonderfall ist, wird immer wieder betont). Wenn überhaupt, dann andersrum (eine Behauptung, die ich natürlich ebenso wenig hier belege): Je saturierter eine Gesellschaft ist, desto mehr verdrängt sie, daß nicht alles technisch lösbar ist. (Und desto hilfloser steht sie den menschlichen Konstanten gegenüber, die sie, da unbeherrschbar, verdrängt. Gibt es in den Entwicklungsländern Sterbehilfevereine?) Mt 19,23 ist eben mehr als Müntefering für Christen, sondern eine im Grunde traurige soziologische Wahrheit.