Heute habe ich Tee gekauft. Beim Teeladen neben der Post bin ich nicht nur wegen dem 2,20-Euro-Wühltisch stehengeblieben, sondern auch wegen des Slogans: »Die Natur hat immer recht!« Protzig mit Ausrufezeichen in Wordart und Comic sans; dann muß es ja wohl stimmen.
»Die Natur hat immer recht!« ist wohl nicht augenzwinkernd gemeint: daß die Natur das letzte Wort hätte (omnia vincit mors). Vielmehr ist es ein esoterischer Gemeinplatz: Was aus der Natur kommt, muß gut sein. Die Kehrseite: »Chemie« ist böse. Hinter diesem kleinen, unschuldig gemeinten Slogan sehe ich eine – wenn auch unbewußte – Anspielung auf Nietzsche, wenn nicht sogar eine Nietzscheanisierung der Gegenwart.
Nietzsche in nuce: Ja sagen zu allem. (»Denn ich will, daß es das alles gibt, was es gibt.«) Nietzsche verweigert sich der Logik des naturalistischen Fehlschlusses, der im Kern besagt, daß sich das Gute nicht aus der Empirie ableiten läßt. Er stellt sich dagegen, die Geistesgeschichte, den Weg vom Mythos zum Logos, als Erfolgsgeschichte zu lesen. Was wir gemeinhin als Aufklärung verstehen, ist für Nietzsche nur eine unnatürliche »Superfötation des Logischen«; eine Unterdrückung des Gefühls, des Pathos, durch Logos und Vernunft. Der Mensch entfremdet sich von seinen Instinkten. »Vernünftigkeit um jeden Preis« ist eine »leben-untergrabende Gewalt« Für Nietzsche ist gerade das decadénce, und nicht die übertriebene Sinnenfreude, die gemeinhin mit Dekadenz assoziiert wird.
»Die Natur hat immer Recht!« ist im Gestus trotziger Verweigerung gegen eine moderne, technische Welt gestellt. So wie Nietzsche die Lesedramen der bürgerlichen Trauerspiele als »aesthetischen Aufkläricht« verspottet, so wie er schon bei Sokrates den Untergang der Tragödie (»die höchste Kunst im Jasagen zum Leben«) konstatiert hat, da mit ihm die τέχνη (was nicht nur Kunstfertigkeit bedeutet, sondern auch die Herkunft unserer »Technik« ist) vollends ins Drama eingezogen ist (Schlegel nannte Emilia Gallotti, das Studierstubendrama par excellence, ein »Exempel dramatischer Algebra«), so wendet sich mein kleiner Teeladen gegen die Zumutungen einer entzauberten Welt. Homöopathie, Heilsteine, Bachblüten: Alles Symptome, die von der Sehnsucht erzählen, Medizin nicht unter dem urlogischen Paradigma von Ursache und Wirkung zu sehen, sondern eine Geschichte der Heilung zu erzählen. Medizin mittels πάθος, Gefühl, einer affektiven Ganzheitlichkeit, nicht mittels δρᾶν, zielgerichtetem Handeln. Pure Vernunft darf niemals siegen.
Nietzsche ist zur Zeitdiagnose aber nicht nur geeignet, indem man ihn bloß als Antipoden der kalten und technisierten Welt der Vernunft, als Streiter gegen einen Bewußtseinsabsolutismus nimmt. Vorgestern, in meinem Artikel zur Wikipedia-Debatte, habe ich das moderne Verständnis des Projektes Wikipedia kritisiert:
Das alte Medium mußte modern konzipiert werden: Das Wissen der Welt mußte kategorisiert werden, systematisiert, es mußte ausgewählt werden, Vorentscheidungen mußten getroffen werden. Ordnung wird rational konstruiert. Das versuchen auch die Relevanzkriterien der Wikipedia.
Mein Moderne-Begriff ist im letzten durch Nietzsche beeinflußt. Was ich gerne als Moderne in Abgrenzung zur Postmoderne bezeichne, taucht bei Nietzsche auch auf – als sehr lange Moderne: von Sokrates bis zu Nietzsche selbst. Nietzsche hat den Vorsokratiker Empedokles als agonalen Menschen, als Krisenmenschen gezeichnet, der an einem Scharnier der Weltgeschichte wirkte: Das mythische Paradigma wird vom logischen abgelöst. (Interessanterweise paßt eine verbreitete Wikipedia-Admin-Schelte auch ins Bild von Nietzsches Sokrates-Kritik: Er sieht Sokrates als Vertreter eines Pöbelinstinkts; sokratische Moral ist Bosheit des Pöbels und Verachtung des Lebens.) Sokrates wird für über 2000 Jahre »über alle Herr«. Nietzsche sieht sich selbst auch als Krisenmenschen: Ihm ist es darum zu tun, die Rückbesinnung auf die Instinkte wieder einzuleiten. Moderne im engeren Sinn mag in Descartes und Spinozas mechanischer Ontologie, die glaubt, alles more geometrico deduzieren zu können, ihren höchsten Ausdruck gefunden haben. Moderne in einer von Nietzsche beeinflußten Terminologie reicht zeitlich viel weiter. Sie ist das blinde Vertrauen in Logik und absolute Wahrheit, das Vertrauen darauf, daß diese Wahrheit nicht nur existiert, sondern auch bestimmt, benannt und herausdestilliert werden kann.
Die »Postmoderne« ist dadurch gekennzeichnet, daß der sokratische, der platonische Anspruch einer einen Wahrheit verneint wird: Alles Kategorisieren ist künstlich, Begriffe und Ordnungen sind nur eine Krücke, um die je einzelnen Erfahrungen in ein Raster zu pressen. (Deshalb ärgere ich mich auch immer, wenn der Papst – wie etwa Alan Posener in der Welt das tut – als »vormodern« bezeichnet wird. Die Theologie des Papstes ist geradezu ein Paradebeispiel an Moderne: Alles ist bei ihm vernünftig geordnet, alles Logos, kaum Pathos, zuviel Athen, zu wenig Jerusalem, um mit Johann Baptist Metz zu kritisieren.)
(Ein kleiner politischer Exkurs: Der Sokratismus ist damit eine Blaupause für Totalitarismus – den Glauben, eine Gesellschaft im Ganzen nach rationalistischen Maßstäben ordnen zu können, Politik als Szientismus und Exekution des Notwendigen und nicht als die Sphäre, in der freie Menschen aufeinander treffen und immer neue Impulse einbringen und verhandeln.)
Nietzsche als Deutemuster für die Gegenwart ist also durchaus zweischneidig; Sokrates’ Körpervergessenheit steht Nietzsches Geistvergessenheit gegenüber – und beide sind sie damit leibvergessen. Nietzsches Ambivalenz: Hier eine lodenromantische Affenliebe zur »Natur«, die den menschlichen Geist, insofern er vernünftig (und nicht ästhetisch) ist, grundsätzlich als verderbt und unnatürlich annimmt, ein Nährboden für Esoterik und Realitätsverweigerung. Wer in dieser Form sich einem »Zurück zur Natur« verschreibt, beschneidet die menschliche Freiheit. Rationalität hat uns nicht nur »kalt, vorsichtig, bewußt, ohne jeden Instinkt« gemacht. Sie macht uns wesentlich zum Menschen. Auf der anderen Seite ermöglicht Nietzsche aber gerade eine Erweiterung der Freiheit: Die Reflexion über das Korsett, das jedes systematische Denken gleichzeitig trägt und einengt. Die Möglichkeit, Organisationsprinzipien als Werkzeug und nicht als Wesen zu erkennen.
Schließlich, das Natürliche als Kritikfolie nehmen zu können, um daran Freiheit ausbuchstabieren zu können: “Natural” only matters when we don’t have a choice.«
So gerne ich mich in Folge übermäßiger Nietzsche-Lektüre auch darum bemühe, stets der Erste zu sein, der den Stein nach Sokrates wirft, und diesen möglichst in den Weichteilen zu erwischen – aber in Ihren politischen Exkurs (und nur da; die Kritik am Neoluddismus der Bio-Verchecker ist A-O.K.) muss ich doch einhaken.
“Der Sokratismus ist damit eine Blaupause für Totalitarismus”, nein, lieber Herr Neumann, das können Sie doch so nicht im Internet schreiben! War der alte Bartträger nicht hauptsächlich damit beschäftigt, ehrliche Malocher der Polis von ihrer Arbeit abzuhalten, indem er sie a) in Gespräche verwickelte, die b) zum Ziel hatten, das Nichtwissen zu decouvrieren?
Dialog und Wissen ums Nichtwissen (sowie die davon angestachelte Neugier) sind ja nun kein Garant gegen den Totalitarismus, aber bestimmt keine Blaupause für diesen! Und wenn man beides als Wesensmerkmale des zoon politikon und des schlauen Tiers nimmt, dann reichen sich Sokrates und Nietzsche doch wieder die Pfoten: Einig darin, auch keine andere Patentlösung zu haben als die empirisch bewiesene Tatsache, dass es halt so oder so irgendwie schon weitergehen wird.
Der Einwand ist gerechtfertigt. Man muß wohl »Sokrates« und Sokrates auseinanderhalten. »Sokrates« als Strohmann Nietzsches ist sicherlich eine Blaupause für Totalitarismus. »Sokrates’« Verdienst laut Nietzsche ist es, das Virus der Vernunft in die Geistesgeschichte eingepflanzt zu haben. Szientismus als politisches Prinzip ist in der Polis – folgt man Hannah Arendt – eigentlich nicht möglich, da es dort in reinster Form um das Aushandeln von Meinungen ging, um ein Freiheitsgeschehen. »Sokrates« wird dann zur totalitären Blaupause, wenn man in seiner Betonung der Vernunft die Grundlage sieht, eine Gesellschaftsordnung more geometrico möglich zu machen. Insofern ist Nietzsches »Sokrates« auch Poppers »Platon«, bzw. dessen Bedingung der Möglichkeit.
Sokrates in einer herrschaftskritischen Lesart ist dagegen gerade nicht »Blaupause des Totalitarismus«; viel spricht dafür, daß das dem historischen Sokrates auch nahekommt (lectio difficilior: Warum sollte man seinen geliebten Lehrer als Querulanten stilisieren?). Nicht umsonst wurde er gerade der ἀσέβεια, also der mangelnden Frömmigkeit angeklagt. Totalitäre Regime können keine Pferdebremsen brauchen, die schonungslos ideologische Verblendungen aufdecken.