Im moralischen Prokrustesbett

Die Rede des Papstes vor dem Bundestag war eine große Rede – eine Rede voller Teile, denen man beim Hören unmittelbar zustimmen möchte, eine Rede, die viele wichtige Impulse setzt. Es war aber auch eine Rede, deren oberflächliche Konsensfähigkeit nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß es dem Papst im Kern damit um einen hochproblematischen Naturbegriff geht mit sehr praktischen Konsequenzen.

Im moralischen Prokrustesbett weiterlesen

Neuroreduktionismus

Winfried Hassemer in der FAZ über den Kategorienfehler, Strafrecht und (Neuro-)Biologie zu vermischen:

Der Kategorienfehler in den Neurowissenschaften besteht in der Annahme, empirisch arbeitende Wissenschaften könnten wissenschaftlich darüber befinden, ob andere Wissenschaften ein Konzept von Freiheit entwickeln dürfen oder nicht, also: ob es Freiheit „gibt“ oder nicht. Eine solche Annahme setzt eine Hegemonie unter Wissenschaften zwingend voraus, und diese Hegemonie gibt es nicht. Es gibt auch kein allgemeines Konzept von Freiheit, das über allen Wissenschaften schwebt, und es gibt schon gar keine Verfügungsmacht der empirischen Wissenschaften, gäbe es ein solches Konzept.

Ein schönes Plädoyer gegen einen normativen Reduktionismus, der glaubt, alles mit Methoden der Naturwissenschaft erklären zu können und so den naturalistischen Fehlschluß zur handlungsleitenden Maxime macht. (Und das ganze dann auch weder ontologisch noch erkenntnistheoretisch argumentierend, sondern aus dem Werkzeugkasten des Strafrechts heraus. Chapeau!) (via weissgarnix)

Gegen eine biologische Theorie des Politischen

In meinem Artikel zu Bloggen und Gender wurde eine interessante Frage gestellt, die ich etwas ausführlicher beantworten möchte. Christian fragt dort:

Könntest du dir vorstellen, dass ein Teil der Geschlechterunterschiede auch biologisch verankert ist?
Simon Cohen Baren, der an Autismus forscht, meint, dass sich Gehirne von typischen Männern und typischen Frauen stark unterscheiden (wobei Mischformen möglich sind).
„Die grundlegende Verschaltung des idealtypisch weiblichen Gehirns begünstigt empathische Analysen während im männlichen Gehirn die Netzwerke für das Verstehen und Bauen von Systemen die Fundamente bilden.”

Da wären dann Themen wie Politik eher was für Männer und Themen wie Beziehungen zu Bekannten, die eher emphatisch sind, eher was für Frauen. Die Ansichten von Cohen-Baron würden demnach auch diese Verteilungen erklären

Natürlich kann ich mir das vorstellen. Die Debatte um »nature or nurture« finde ich aber so spannend nicht; in Geschlechterfragen ist mein Interesse eher ein sozialwissenschaftliches als ein philosophisches (oder wenn’s im Rahmen der Philosophie gefaßt werden soll: ich denke über politische Theorie nach und nicht über Ontologie). Das Männer und Frauen unterschiedlich sind (hirnphysiologisch zumal), unterschiedlich behandelt werden und unterschiedlich handeln, ist erstmal eine Tatsache. (Auch wenn das natürlich sehr holzschnittartig argumentiert ist und Fragen nach sozialen und kulturellen Rollen und Rollenzuweisungen ausklammert.) Woran das liegt, halte ich erstmal für zweitranig für eine politische Diskussion; idealtypisch ist es entweder Biologie oder Sozialisierung (und weniger idealtypisch eine Mischung, und dann ist noch die Henne-Ei-Frage, ob das Gehirn gesellschaftliche Strukturen adaptiert oder umgekehrt). Beides, Natur und Erziehung, läßt sich nicht einfach wegprogrammieren, und schon gar nicht zwangsweise. Die gesellschaftliche Frage ist: Wie gehen wir damit um? Das interessiert mich.
Gegen eine biologische Theorie des Politischen weiterlesen

Meisners grobe Keile

Kardinal Meisner hat es mal wieder getan: Nazivergleiche in seiner Allerheiligenpredigt. Diesmal trifft es die »atheistische Wissenschaft«, und natürlich ist das Medienecho immens. Was hat er eigentlich gesagt? (Und warum bitteschön denn mal wieder so!)
Meisners grobe Keile weiterlesen

Natürlich! Nietzsche, Wikipedia und die Moderne

Natur hat immer Recht!
Natur hat immer Recht!

Heute habe ich Tee gekauft. Beim Teeladen neben der Post bin ich nicht nur wegen dem 2,20-Euro-Wühltisch stehengeblieben, sondern auch wegen des Slogans: »Die Natur hat immer recht!« Protzig mit Ausrufezeichen in Wordart und Comic sans; dann muß es ja wohl stimmen.

»Die Natur hat immer recht!« ist wohl nicht augenzwinkernd gemeint: daß die Natur das letzte Wort hätte (omnia vincit mors). Vielmehr ist es ein esoterischer Gemeinplatz: Was aus der Natur kommt, muß gut sein. Die Kehrseite: »Chemie« ist böse. Hinter diesem kleinen, unschuldig gemeinten Slogan sehe ich eine – wenn auch unbewußte – Anspielung auf Nietzsche, wenn nicht sogar eine Nietzscheanisierung der Gegenwart.
Natürlich! Nietzsche, Wikipedia und die Moderne weiterlesen

Piraten, Gender und Pragmatik

In den letzten Tagen tobt durch die Blogosphäre eine Debatte um die Geschlechtergerechtigkeit der Piratenpartei. Die Positionen waren im wesentlichen einerseits, daß für die Piratenpartei Genderfragen kein Thema seien, da man nicht diskriminiere und offen sei, andererseits, daß es gerade das Problem sei, daß Genderfragen nicht thematisiert werden.

Hier prallen idealtypisch zwei fundamental verschiedene Positionen aufeinander: Eine szientistische und eine Standpunkttheorie. Die Piraten (begünstigt durch die Zusammensetzung der Partei, die sich zu großen Teilen aus ingenieurswissenschaftlich orientierten und affinen Hintergründen rekrutiert) tendieren zu einer szientistischen Sichtweise: Sie verstehen sich selbst als bewußt pragmatische und am gesunden Menschenverstand orientiert und grenzen sich von Ideologien ab (daher auch meine Zuordnung zu einem radikalen Zentrismus). Das Entscheidungsparadigma scheint jener kluge Aphorismus von Karl Kraus zu sein:

In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.

An diesem Aphorismus kann man sehen, warum ein solches Politikverständnis nicht funktionieren kann: Natürlich ist der Grundsatz unbestritten, nur ist die Natur des Zweifelsfalls ja gerade, daß das Richtige nicht offensichtlich ist.
Piraten, Gender und Pragmatik weiterlesen

Leserbrief Zölibat

Gegen eine reichlich krude naturalistische Argumentation in einem FAZ-Leserbrief (»Philosophisch-evolutionäre Betrachtung«, FAZ Nr. 98 vom 26. April 2008) habe ich einen Leserbrief geschrieben.

Georg Büchner läßt seinen St. Just in »Dantons Tod« fragen, ob die moralische Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen solle als die physische. Für St. Just ist klar: Die moralische Natur hat der physischen zu folgen, und also ist der terreur der Revolution rechtmäßiges Werkzeug. So verheerend sich diese Folgerung in der Geschichte immer wieder erwiesen hat: Der Argumentation in Reinhard Lohses Brief hat sie voraus, immerhin zwischen moralischer und physischer Natur zu unterscheiden.

Leserbrief Zölibat weiterlesen

Mein Vater war ein Höhlenmann, und mir steckt's auch im Blut

Der Spiegel überrascht mit seinem Weihnachtstitelthema: Kreationismus. Etwas enttäuschend, wie ich finde. Bis jetzt tat sich eben diese Publikation immer mit zwar polemischen, dafür aber unfundierten Religionsthemen hervor, und plötzlich gibt’s keinen völlig undifferenzierten Rundumschlag mehr. Online liest man folgendes:

Doch ein allgemeines Unbehagen angesichts des Triumphzugs der Genome bleibt. Katholiken und Protestanten betonen gern die ethischen Probleme, die damit verbunden sind. Die Skepsis ist überall die Gleiche, denn es geht ans Eingemachte: Wenn alle Geheimnisse des Menschseins ausgeplaudert und in Datenlisten gespeichert und auf Reagenzgläser verteilt sind, dann ist Gott bald so überflüssig wie ein Schreiber mit Federkiel in einer High-Tech-Druckerei. Um die Welt der Biologen zu erklären, braucht ihn kein Mensch mehr.

Mit diesem seltsam zwischen Trotzdem-glauben-Wollen und Unfähigkeit, dem unreflektiertem Naturalismus etwas entgegenzusetzen, pendelndem Artikel wird der Sache ein Bärendienst geleistet. Und zwar nicht nur dem Glauben, sondern auch der Wissenschaft. Die Arkandisziplin Biologie wird verabsolutiert, der naturalistische Fehlschluß feiert fröhliche Urständ, der ontologische Vorrang der Seinsfrage ist auch nur hingeheideggert, und Wissenschaftstheorie hat ausgepoppert. (Wie es anders geht, zeigt der Jesuit Christian Kummer heuer in den Stimmen der Zeit.)