Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie

Mittlerweile glaube ich zu verstehen (nachdem es mir lange wie Nico Lumma ging), warum Stuttgart 21 (im Vergleich mit Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Zukunft der Atomkraft, Bildung und Wirtschaftskrise und so weiter nun wirklich nicht übermäßig wichtig) so polarisiert: Es geht um Ohnmacht. Es geht um die Ohnmacht, einem politischen Prozeß ausgeliefert zu sein, der scheinbar nicht zu beeinflussen ist.

Die Argumentation der Befürworter läßt sich kaum leugnen: Über mehrere Ebenen wurde das Projekt nach demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren beschlossen, verschiedene Wahlen im Laufe des Entscheidungsprozeß haben die befürwortenden Gruppen bestätigt, die Beschlüsse wurden vor Gericht überprüft. Insofern ist Stuttgart 21 durchaus hervorragend legitimiert, mehr als die meisten anderen politischen Projekte.

Und dennoch: So sauber legitimiert es ist – es zeigt die Schwächen eines rein repräsentativdemokratischen Systems auf. Daß die Proteste nun durch groteske Polizeigewaltexzesse niedergeschlagen werden (darf ein Rechtsstaat die Erblindung von Menschen in Kauf nehmen, nur um die zeitnahe Umsetzung eines Bauvorhabens durchzusetzen?), ist nicht die Selbstbehauptung des repräsentativdemokratischen Rechtsstaats gegen undemokratische schlechte Verlierer. Es ist eine fast schon autistisch zu nennende an Nabelschau grenzende Reaktion eines selbstgenügsamen politischen Apparats, der sturheil nur seinen Prozeduren zu folgen vermag, ohne sich von Kontexten beeinflussen zu lassen.
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Versprechen

Gestern abend wurde im SWR-Fernsehen über Stuttgart 21 diskutiert; die Inhalte und Argumente waren soweit vorherzusehen, interessant fand ich die Diskussion aus einer demokratietheoretischen Perspektive.

Zweimal versuchte der Moderator, Versprechen abzunötigen: Einmal Tanja Gönner (CDU-Verkehrsministerin), daß die Kosten nicht steigen würden, das andere Mal Winfried Hermann (grüner MdB und Verkehrspolitiker), daß die Grünen im Falle eines Wahlsiegs Stuttgart 21 in jedem Fall stoppen würden. Meine erste Intuition: Hier stimmt etwas nicht, »Versprechen« ist eine problematische politische Kategorie. Meine zweite: Aber da war doch Hannah Arendt, die das Versprechen in ihrer Vita activa an den Schluß ihres Kapitels über »Handeln« stellt; Handeln ist für Arendt (ganz grob) das Politische: Wo freie Menschen aufeinandertreffen und die Bedingungen ihrer Freiheit aushandeln.

(Der andere interessante Aspekt wäre Gönners Demokratieverständnis; in Ermangelung einer greifbaren Aufzeichnung kann ich dazu leider – noch – nichts schreiben.)
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Gegen eine biologische Theorie des Politischen

In meinem Artikel zu Bloggen und Gender wurde eine interessante Frage gestellt, die ich etwas ausführlicher beantworten möchte. Christian fragt dort:

Könntest du dir vorstellen, dass ein Teil der Geschlechterunterschiede auch biologisch verankert ist?
Simon Cohen Baren, der an Autismus forscht, meint, dass sich Gehirne von typischen Männern und typischen Frauen stark unterscheiden (wobei Mischformen möglich sind).
„Die grundlegende Verschaltung des idealtypisch weiblichen Gehirns begünstigt empathische Analysen während im männlichen Gehirn die Netzwerke für das Verstehen und Bauen von Systemen die Fundamente bilden.”

Da wären dann Themen wie Politik eher was für Männer und Themen wie Beziehungen zu Bekannten, die eher emphatisch sind, eher was für Frauen. Die Ansichten von Cohen-Baron würden demnach auch diese Verteilungen erklären

Natürlich kann ich mir das vorstellen. Die Debatte um »nature or nurture« finde ich aber so spannend nicht; in Geschlechterfragen ist mein Interesse eher ein sozialwissenschaftliches als ein philosophisches (oder wenn’s im Rahmen der Philosophie gefaßt werden soll: ich denke über politische Theorie nach und nicht über Ontologie). Das Männer und Frauen unterschiedlich sind (hirnphysiologisch zumal), unterschiedlich behandelt werden und unterschiedlich handeln, ist erstmal eine Tatsache. (Auch wenn das natürlich sehr holzschnittartig argumentiert ist und Fragen nach sozialen und kulturellen Rollen und Rollenzuweisungen ausklammert.) Woran das liegt, halte ich erstmal für zweitranig für eine politische Diskussion; idealtypisch ist es entweder Biologie oder Sozialisierung (und weniger idealtypisch eine Mischung, und dann ist noch die Henne-Ei-Frage, ob das Gehirn gesellschaftliche Strukturen adaptiert oder umgekehrt). Beides, Natur und Erziehung, läßt sich nicht einfach wegprogrammieren, und schon gar nicht zwangsweise. Die gesellschaftliche Frage ist: Wie gehen wir damit um? Das interessiert mich.
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Der Bundespräsident als Paria und Tenno

Mein ganzes Unbehagen am Amt des Bundespräsidenten kann ich an der Personalie von der Leyen festmachen. Nein, nichts Inhaltliches, auch wenn die Netzsperren, die populistische Rhetorik, die Lügen immer noch ohne Konsequenz im Raum stehen. Nein, auch nicht Machttaktik und Machtarithmetik.

Was ich erschreckend fand und immer noch finde, ist ihr Alter: Jahrgang 1958, 52 Jahre alt – mit 57, spätestens aber 62 Jahren wäre sie am Ende gewesen. Was soll danach noch für sie kommen? Selbst Zensursula wünsche ich dieses Amt nicht an den Hals.
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Der Öffentlichkeit nicht den Boden entziehen. Anforderungen an ein neues Urheberrecht

Das Sigint-Panel zum Thema Urheberrecht (meine Einführung dazu hier) hätte der Ausschreibung nach lösungsorientiert sein sollen, und das ist grandios gescheitert. Man kann nicht zu Lösungen kommen, wenn eine Partei (hier waren es der Vertreter der Musikindustrie und der exemplarische Künstler) das Problem leugnet. Für eine lösungsorientierte Diskussion des Themas Urheberrecht darf man nicht beim Geld anfangen. Man muß beim zu schützenden Rechtsgut anfangen – und das ist nicht das ökonomische Interesse, das ein fiktives »geistiges Eigentum« kodifiziert und durchgesetzt sehen will. Es ist das Interesse an einer funktionierenden öffentlichen Sphäre.

Die Diskussion über Geld, Leistung und Geschäftsmodelle ist nachgelagert.
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Sigint 2010: Urheberrecht, Eigentum und Kunst

Auf der Sigint 2010 habe ich den Einführungsvortrag zum Panel Kommunismus oder Kommunitarismus? Voraussetzungen für und Anforderungen an ein Neues Urheberrecht gehalten. Hier der ausformulierte Vortrag und die Folien zum Download.

Um das Problem des gegenwärtigen Urheberrechts auf die Spitze zu treiben behandle ich zwei Begriffe: Eigentum und Kunst.

Das Thema Eigentum gehe ich aus einer liberalen Perspektive an; nicht nur, weil das die Denkschule ist, mit der ich vertraut bin, sondern auch aus einer politischen Notwendigkeit: Mit einer »linken« Argumentation läßt sich eine »Vergesellschaftung geistigen Eigentums« leicht begründen. (Zu unterschiedlichen Begründungs- und Kritikstrategien »geistigen Eigentums« mein Artikel »Digitalkommunismus oder liberale Avantgarde«) Es gilt, FDP und CDU zu überzeugen. (Bei einer nominell christlichen Partei wie der CDU ließe sich auch noch in der Tradition der christlichen Sozialethik argumentieren und, will man am Begriff »geistiges Eigentum« festhalten, dessen Sozialpflichtigkeit betonen. Mit der Rezeption »christlicher« Netz- und Urheberrechtspolitikansätze ist es aber in der CDU nicht weit her. Vergleiche dazu meinen Artikel /»netzpolitik.va – was die CDU vom Vatikan lernen kann«)

Das Thema Kunst habe ich gewählt, weil sich am Beispiel der Kunst alle Fragen, die auch im Alltag auftreten, radikalisieren lassen. Die »bloße« Reproduktion und Kopie eines Werks scheint intuitiv »falsch« zu sein, die Frage wird aber komplexer, wenn man die Werke etwa von Andy Warhol und Marcel Duchamps betrachtet. Kunst hinterfragt scheinbar einfache Konzepte wie »Schöpfungshöhe« und »Urheber«. Freiheit der Kunst ist eine radikalisierte Form demokratischer Offenheit.
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Thierse, blockier’se?

Als ich zum ersten Mal gelesen hatte, daß Wolfgang Thierse an einer Sitzblockade gegen die Nazidemo am 1. Mai teilgenommen hat, fand ich das gut. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verzwickter scheint mir aber der Fall zu sein. Einfach nur einen strikten Rechtspositivismus gegen Thierse oder die guten Absichten aller für Thierse ins Feld zu führen, ist mir zu einfach.

Das Spannungsfeld, das diesen Fall so interessant macht, ist der Interessenskonflikt zwischen Thierse als Bürger und Thierse als Repräsentant eines Verfassungsorgans, auf die Spitze getrieben in der Frage: Ist ziviler Ungehorsam des Staates gegen sich selbst möglich, zulässig?
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Wahrheit ist keine Kategorie des Politischen

Direkte Demokratie ist kein Anwendungsfall der »Weisheit der Massen«, auch wenn das immer wieder gerne ins Feld geführt wird, wenn für direkte Demokratie argumentiert wird. (Jüngst etwa in den Kommentaren zu David Pachalis auch ansonsten lesenswertem Artikel Medienhype ums Minarett.)

Der Argumentation liegt eine Fehleinschätzung zugrunde: Die Weisheit der Massen und Politik beschäftigen sich mit unterschiedlichen Arten von Urteilen: Hier Sachurteile, dort Werturteile.
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Mehrheit und Wahrheit

Die Kritik an meinem Artikel zum Minarettverbot, das ich für illegitim halte, hebt darauf ab, daß meiner zentrale These widersprochen wird:

Wenn die Herrschaft des Rechts aber bestehen soll, dann darf es keine uneingeschränkte Herrschaft der Mehrheit geben.

Widersprochen wird etwa bei Spreeblick, ab Kommentar 196:

Wer entscheidet denn, was Recht und Unrecht sein soll in einer Gesellschaft ausser deren Mehrheit?

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Das Ende der digitalen Politik

»Digital« heißt eigentlich nicht viel mehr als: In Zahlen codiert. Heutzutage muß »digital« als Metapher herhalten für alles, was mit IT zu tun hat. Ganz selbstverständlich spricht man von digital natives und der »digitalen Generation«.

Das ist schmissig, das ist griffig – trifft aber gerade nicht das Politikverständnis, das sich im Zuge der Digitalisierung ausbreitet: Gerade die Digitalisierung trägt dazu bei, daß Politik weniger digital ist.
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