Erschienen: Was ist konservativ?

Was ist konservativ
Markus Porsche-Ludwig & Jürgen Bellers (Hg.):
Was ist konservativ? Eine Spurensuche in Politik, Philosophie, Wissenschaft, Literatur. Nordhausen 2013.

Für das von Markus Porsche-Ludwig und Jürgen Bellert herausgegebene Buch »Was ist konservativ? – Eine Spurensuche«, das seit dieser Woche auf dem Markt  ist, habe ich die Frage »Was ist konservativ« (in illustrer Gesellschaft) beantwortet:
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Der Papst der Moderne

Ist der Papst, ist der Vatikan, ist die Kirche in der Moderne angekommen? Es häufen sich die Artikel mit dieser Fragestellung (zuletzt etwa Jan-Heiner Tück in der NZZ); gemeint ist natürlich: Im Jetzt angekommen.

Wird die Frage nach der »Moderne« gestellt, verstellt das einen wichtigen Zug in der Theologie Benedikt XVI. und der Kirche überhaupt: Daß sie nämlich in ihrer Lehre und ihrem Handeln im geistesgeschichtlichen Sinn eine Institution der Moderne par excellence ist – und genau das ist das Problem. Während umgangssprachlich die Kirche nicht modern ist, ist der Kern der benannten Probleme ihr Ausblenden postmoderner Theorie, Praxis und Lebenswelten.

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Erinnern und Verzeihen

Der hervorragende Podcast »This American Life« hat eine Folge über die Arbeitsbedingungen bei Apple-Zulieferern zurückgezogen. Mike Daisys eindrücklich szenische Solo-Lesung, in der er über seinen Besuch in Shenzhen berichtet, war in wesentlichen Teilen erfunden. Der redaktionelle Prozeß wurde in der Podcast-Folge Retraction geschildert, inklusive eines ausführlichen Interviews mit Daisy.

Selten habe ich mich so unwohl gefühlt beim Podcast-Hören.
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Spaß und Protest

Wird die Piratenpartei diskutiert, dann geht es meistens um das Programm: Wofür steht die Partei, hat sie ein Programm, hat sie Themen (und hat sie mehr als eins), wie ist sie ins politische Spektrum einzuordnen? Es geht auch um strukturelle Fragen: Wer ist Mitglied, wer wählt sie – und warum? Ist es Protest, ist es Spaß?

Protestpartei und Spaßpartei – in diesen Frame wollen die etablierten Parteien die Piraten einpassen. Das ist korrekt. Die Piraten sind eine Protestpartei und eine Spaßpartei – aber nicht in dem Sinn, wie diese Begriffe gemeinhin benutzt werden. Protest und Spaß: Das macht die Piraten aus, und das ist ihre Stärke und ihr Beitrag zum Parteiensystem.
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Lob der Blase. Fragmentierte Öffentlichkeiten

Kommentare.
Die Intelligenz einer Gruppe als ganzes errechnet sich aus der Intelligenz des klügsten Gruppenmitglieds geteilt durch die Anzahl der Gruppenmitglieder – mit der Anzahl der Kommentare geht die Wahrscheinlichkeit eines kreuzdämlichen Kommentars, der die Diskussion mit seiner Dämlichkeit ansteckt, steil gegen 1. Kurz: Menschen und Meinungen skalieren nicht. (Karl Valentin, encore: Der Mensch ist gut, aber die Leut san schlecht.) Und das führt dazu, daß fragmentierte Öffentlichkeiten und die splendid isolation einer filter bubble nicht Ignoranz erzeugen, sondern einen qualitativen Diskurs erst ermöglichen.

Die Filterbubble-These als Kritik am Netz hat zwei Aspekte: die technische Auslieferung an fremdkontrollierte Filter-Algorithmen, die immer nur mehr vom gleichen liefern (darauf hebt Pariser ab), und der selbstverursachte und gewollte Rückzug in die eigene Komfortzone, sei’s aktiv, sei’s passiv durch das Inkaufnehmen der Filter. Diese These ist nicht übermäßig belastbar, die allfällige Algorithmen-Kritik trägt auch technisch nicht – Christoph Kappes hat das schön widerlegtda schön dagegen argumentiert. (Überhaupt: nie war weniger aufgezwungene Bubble – früher zu meinen Schulzeiten, also nicht wesentlich länger als 10 Jahre her, als wir zuhause nur die Badischen Neuesten Nachrichten hatten, es in Kirrlach keine taz zu kaufen gab, und mein Deutschlehrer seine gelesenen Zeitungen für uns in die Schulbibliothek gelegt hat – das war bubble!)

Die eigenen Filter zu justieren und nicht nur nicht alles zu lesen, sondern auch nicht mit allen ins Gespräch kommen zu müssen, ist nötig – und es erhöht insgesamt die Qualität des Diskurses. Es müssen gar nicht alle miteinander reden. Das geht schief.

Ich erinnere mich an Usenet-Zeiten: Das Usenet ist trotz seiner dezentralen Architektur viel einheitlicher als die fragmentierten Öffentlichkeiten aus Social-Media-Kontakten und thematischen Nischen in Webforen, die heute die dominanten Diskursorte im Netz sind. Für den deutschsprachigen Raum war de.* ob seiner Größe und Reichweite maßstabgebend – zudem war de.* per Definition themenvollständig: Für jedes beliebige Thema gab es genau eine Gruppe – und sei es de.etc.misc.

drf, desd, drsrm haben jeweils spezielle Mehrheitskulturen und -meinungen ausgebildet, gegen die schwer zu argumentieren ist und die Diskussionen innerhalb der Minderheitsmeinung extrem erschwert haben (drf: Gegen Helm- und Fahrradwegpflicht; desd: deskriptive statt präskriptive Linguistik; drsrm: eher dramatism als gamism). Gruppen mit allgemeinen Themen, zu denen alle etwas zu sagen haben (Politik und Religion) waren Krieg und völlig unlesbar. (Ich schreibe in der Vergangenheit, auch wenn es all das natürlich weiterhin gibt – ich bin aber vor zwei, drei Jahren mit meiner Wanderung in die Cloud aus dem Usenet ausgestiegen – einen ordentlichen browserbasierten Usenet-Client habe ich noch nicht gefunden.)

Selbst wer sich seine persönliche Filter-Bubble zurechtschnitzte (und das war mit ordentlichen Readern problemlos möglich; mein Scorefile war hochkomplex), war doch der Mehrheitsmeinung einigermaßen schutzlos ausgeliefert, wenn nicht selbst mit entsprechendem Einfluß oder Postingvolumen Raum für die eigene Position geschaffen wurde.

Einheitliche, zentrale und alternativlose Diskursorte oder auch nur hinreichend große Mengen an Menschen (wie in Kommentarspalten von Zeitungen) führen zu der erdrückenden Meinungsmacht, vor der John Stuart Mill sich so fürchtete und die Tocqueville »Tyrannei der Mehrheit« nannte: Es braucht die geschützten Räume, in denen Meinungen ausprobiert werden können. Es braucht die Möglichkeit, erst einmal mit Gleichgesinnten oder auf einem bestimmten Niveau im Reden die Gedanken allmählich zu verfertigen. In den Theorien der politischen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts ist Masse die Gefahr für die Freiheit: Habermas trauert dem Caféhaus und dem bürgerlichen Salon nach; Canetti betrachtet schaudernd, wie Menschen in der Masse enthemmt werden; Arendt sieht (mit Mill und Tocqueville) die Normierung des Einzelnen in der Massengesellschaft als Gefahr für das Politische überhaupt.

Eine politische Öffentlichkeit der Masse ist die Carl Schmitts: Politik als Unterscheidung von Freund und Feind, klar entscheidbare Alternativen, dafür oder dagegen, Macht und Wucht als Argument. Nur solche politischen Prozesse skalieren, die quantitativ auswertbar sind: Wahlen und Abstimmungen. Für das – in Arendts Sinn – eigentlich Politische, nämlich das Aushandeln der Bedingungen der Freiheit unter Freien und Gleichen, für einen rationalen Diskurs, braucht es Methoden, die sich bestenfalls über Repräsentation skalieren lassen: Dann sind nicht alle je einzeln Akteurinnen, sondern Parteien, Milieus, Interessen, Funktionen durch ihre jeweiligen Organe – Funktionäre, die sich einer medialen – also vermittelten – Öffentlichkeit bedienen (zur Funktion des Funktionärs sehr erhellend Frank Lübberding).

Allein vermittelte Öffentlichkeit genügt heute nicht mehr. Immer mehr Menschen wollen selbst Politik und Diskurs mitgestalten. Aus den technischen Möglichkeiten von Kommunikation und Publikation entsteht das persönliche Bedürfnis, zu sprechen und gehört zu werden, nicht mehr nur im Nahraum, sondern auch mit Wirkung im politischen Raum. (Oder konkret: Ich kann meine MdB antwittern, dann sollen sie aber auch antworten!) Zu all den Sprechenden gibt es aber nur eine begrenzte Zeit der potentiellen Hörenden an den Schaltstellen; Unmut, Politiker- und Parteiverdrossenheit schweißen zu einer unzufriedenen Masse zusammen. (Die Piratenpartei, geboren aus diesem Gehört-werden-wollen, steht gerade an der Stelle, wo es für sie darum geht, die Masse der Individualisten zu kanalisieren, ohne wieder eine Erfahrung der fehlenden Selbstwirksamkeit zu erzeugen. Liquid feedback ist ein solcher Versuch, qualitative Beteiligung an Politik skalierbar zu machen.)

So paradox es klingt: Unter den Bedingungen der globalen Kommunikation ist Fragmentierung der einzig gangbare Weg für qualitative Diskussionen, bei denen potentiell alle sich beteiligen können. Im persönlichen Facebook-Kontaktnetz, in Special-Interest-Foren gibt es die Freiräume, die in der einen zentralen thematisch passenden Usenet-Gruppe nicht möglich waren. Blogs schaffen sich (durch Sprache und Anspruch, durch Ästhetik und Stil, durch Moderations-, Diskussions- und Vergemeinschaftungsverhalten) ihre je eigene Mikro-Öffentlichkeiten, in denen die Beteiligten befriedigende Diskurse führen können. Der eigene Facebook-Kreis (nicht: Facebook), Foren, Blogs: Das sind die funktionalen Äquivalente von Aristoteles’ (und Arendts’) überschaubaren Marktplätzen, von Habermas’ Salons.

Postdemokratie nach Crouch ist dadurch gekennzeichnet, dass zwar formal noch demokratische Institutionen bestehen, diese faktisch aber nichts mehr zu entscheiden haben; an ihre Stelle treten die Verhandlungen von wirtschaftlichen und politischen Eliten; der von der Exekutive geschlossene völkerrechtliche Vertrag bindet die nationalen Parlamente; es fehlt eine globale Instanz, die einen Ordnungsrahmen für global agierende Konzerne aufstellen kann. Immer größere Teile des Lebens werden datenförmig, und Daten kennen keine nationalen Grenzen.

Politik für möglichst viele ist nur in fragmentierten Öffentlichkeiten möglich, und gleichzeitig ist das materielle Ziel dieser Politik immer weniger lokal begrenzbar. Politik in fragmentierten Öffentlichkeiten ist nichts neues; früher konnten das Parteien, Verbände, Initiativen in ihren Untergliederungen mit Hilfe des Prinzips der Repräsentation als Transmissionsriemen leisten. Die politische und demokratietheoretische Zukunftsfrage wird sein, wo der Transmissionsriemen ist, der heute Mikroöffentlichkeiten und Weltinnenpolitik verbindet und der die fragmentierten Öffentlichkeiten in einer gemeinsamen Öffentlichkeit bündelt.

Versprechen

Gestern abend wurde im SWR-Fernsehen über Stuttgart 21 diskutiert; die Inhalte und Argumente waren soweit vorherzusehen, interessant fand ich die Diskussion aus einer demokratietheoretischen Perspektive.

Zweimal versuchte der Moderator, Versprechen abzunötigen: Einmal Tanja Gönner (CDU-Verkehrsministerin), daß die Kosten nicht steigen würden, das andere Mal Winfried Hermann (grüner MdB und Verkehrspolitiker), daß die Grünen im Falle eines Wahlsiegs Stuttgart 21 in jedem Fall stoppen würden. Meine erste Intuition: Hier stimmt etwas nicht, »Versprechen« ist eine problematische politische Kategorie. Meine zweite: Aber da war doch Hannah Arendt, die das Versprechen in ihrer Vita activa an den Schluß ihres Kapitels über »Handeln« stellt; Handeln ist für Arendt (ganz grob) das Politische: Wo freie Menschen aufeinandertreffen und die Bedingungen ihrer Freiheit aushandeln.

(Der andere interessante Aspekt wäre Gönners Demokratieverständnis; in Ermangelung einer greifbaren Aufzeichnung kann ich dazu leider – noch – nichts schreiben.)
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Vom Parlament zur Agora

Dieser Tage ist viel über Kontrollverlust die Rede.

Ich halte ja das Vorgehen der Beteiligten (den schwarzen Peter schiebe ich aber doch der FAZ zu) für eine Überreaktion; selbst eine betuliche hessische Online-Redaktion könnte sich auf die Tugenden des ehrlichen Kaufmanns besinnen: man vertraut auf die Integrität des Geschäftspartners, Fehler passieren eben, die klärt man, und dann hat man wieder eine Geschäftsgrundlage. Eigentlich interessant finde ich, daß sich hier ein Aspekt von Kontrollverlust ganz praktisch sehen läßt: Die öffentliche Privatheit, die das Netz ermöglicht, ist nicht kompatibel mit der hergebrachten Auffassung von Diskretion. Wir sehen die Ausläufer eines Paradigmenwechsels: Von »Die Gedanken sind frei« (»doch alles in der Still’/und wie es sich schicket.«) zur Nudistenkolonie, in der niemand nackt ist.

Ungeklärt ist, was das für gesellschaftliche wie politische Institutionen heißt.
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Der Bundespräsident als Paria und Tenno

Mein ganzes Unbehagen am Amt des Bundespräsidenten kann ich an der Personalie von der Leyen festmachen. Nein, nichts Inhaltliches, auch wenn die Netzsperren, die populistische Rhetorik, die Lügen immer noch ohne Konsequenz im Raum stehen. Nein, auch nicht Machttaktik und Machtarithmetik.

Was ich erschreckend fand und immer noch finde, ist ihr Alter: Jahrgang 1958, 52 Jahre alt – mit 57, spätestens aber 62 Jahren wäre sie am Ende gewesen. Was soll danach noch für sie kommen? Selbst Zensursula wünsche ich dieses Amt nicht an den Hals.
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Thierse, blockier’se?

Als ich zum ersten Mal gelesen hatte, daß Wolfgang Thierse an einer Sitzblockade gegen die Nazidemo am 1. Mai teilgenommen hat, fand ich das gut. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verzwickter scheint mir aber der Fall zu sein. Einfach nur einen strikten Rechtspositivismus gegen Thierse oder die guten Absichten aller für Thierse ins Feld zu führen, ist mir zu einfach.

Das Spannungsfeld, das diesen Fall so interessant macht, ist der Interessenskonflikt zwischen Thierse als Bürger und Thierse als Repräsentant eines Verfassungsorgans, auf die Spitze getrieben in der Frage: Ist ziviler Ungehorsam des Staates gegen sich selbst möglich, zulässig?
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(k)no(w) god – Twitter-Theologie

Gestern durften wir einen neuen Evolutionssprung bei Twitter beobachten:

glad to see Twitter has moved from where we get our news to where we base our theology

Twitters trending topics wurden angeführt von »no god«. Dazu kam es, nachdem @RevRunWisdom einen Besinnungsspruch getwittert hatte: »Know God… Know Peace. No God.. No Peace!.« [sic!] Meine erste Reaktion war, das unter die beliebte Argumentationsfigur einzuordnen, daß es keine Moral ohne Gott gebe und damit den Sinnspruch als Kitsch zu verwerfen. (In einem anderen Artikel habe ich mich damit auseinandergesetzt.) Nach etwas längerem Nachdenken bin ich zu dem Schluß gekommen: Da steckt mehr dahinter.
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