Der hervorragende Podcast »This American Life« hat eine Folge über die Arbeitsbedingungen bei Apple-Zulieferern zurückgezogen. Mike Daisys eindrücklich szenische Solo-Lesung, in der er über seinen Besuch in Shenzhen berichtet, war in wesentlichen Teilen erfunden. Der redaktionelle Prozeß wurde in der Podcast-Folge Retraction geschildert, inklusive eines ausführlichen Interviews mit Daisy.
Selten habe ich mich so unwohl gefühlt beim Podcast-Hören.
So wichtig es ist, den Fehler transparent aufzuklären, auch wenn Daisy gegenüber der Redaktion gelogen hat – ist das wirklich die Form, in der so etwas gemacht werden sollte? Ich hatte das Gefühl, einem Verhör zuzuhören. Die unangenehmen Pausen, in denen er sich windet, als wolle er nicht wahrhaben, daß ihm die Situation entglitten ist; die Fragen, deren Antwort auf der Sachebene schon feststand (»ja, das war in Wirklichkeit anders«), die aber noch einmal von Daisy ausgesprochen werden sollten; der trotzige Rückzug in die Verteidigungslinie, daß es ein literarischer Text sei, und sein eigentlicher Fehler die Freigabe zur Verwendung in einem journalistischen Format gewesen sei. Während dem Hören hatte ich das ganze Zeit das ungute Gefühl, daß das eine Interviewform ist, die Menschen zerbrechen kann. (Auch wenn sie schuldig sind, darf das nicht das Ziel sein.)
Die Folge schien mir wie ein journalistisches Reinigungsritual: Schonungslos wird transparent gemacht, was schief gelaufen ist. Das ist wünschenswert, wenn es das eigene Handeln angeht; gegenüber Daisy hätte ich mir aber trotz alledem, obwohl er ja der eigentliche Täter ist, ein Mindestmaß an Verantwortung gewünscht. Journalistische Verantwortung besteht ja nicht nur gegenüber der Wahrheit – sondern auch gegenüber den Menschen, die Gegenstand der Berichterstattung sind.
Kathrin fragt nach der Moral von der Geschichte. Ständig wird uns eine Diskussion über ein Recht auf Vergessen aufgedrückt, über elektronische Radiergummis – das ist technisch unmöglich, wenn es um mehr geht, als Daten von einer abgegrenzten, kontrollierten Plattform zu löschen. Was in der Welt ist, ist potentiell beliebig oft kopierbar. Mit der technischen Unmöglichkeit werden wir leben müssen – und diese Unmöglichkeit sollte sich auch widerspiegeln im Ethos unseres Veröffentlichens: Was wir schreiben, wird nicht nur unter großem Aufwand aus Zeitungsarchiven und Mikrofiches zu ziehen sein; was wir schreiben, ist immer nur eine Query entfernt. Zurecht war die Redaktion von This American Life wütend; sie wurde angelogen. Daisy war schuld, und da läßt sich nicht daran rütteln. »Die Schuld ist die Last, welche die Vergangenheit der Zukunft aufbürdet«, heißt es bei Paul Ricœur (in Das Rätsel der Vergangenheit, Göttingen 1998, S. 56.)
Wo nicht vergessen werden kann, braucht es in besonderer Weise die Möglichkeit zu verzeihen. »Das Verzeihen möchte diese Last leichter machen«, geht es bei Ricœur weiter. Auch wenn Daisy sich die Sendung unlauter zunutze gemacht hat – das gibt im Gegenzug nicht das Recht, Daisy zu instrumentalisieren für die journalistische Reinwaschung. Nach der ersten Wut sollte die journalistische Verarbeitung die Möglichkeit des Verzeihens bedenken und auf den Täter Rücksicht nehmen. Hat es wirklich des gesendeten notpeinlichen Interviews bedurft – oder hätte es nicht genügt, zu sagen, man habe mit Daisy gesprochen, folgendes habe er vorgebracht, wir bewerten das wie folgt?
Aus gutem Grund haben wir im deutschen Rechtssystem, dessen zentrale Norm die Menschenwürde ist, institutionalisiertes Verzeihen: Die Verjährung von Vorstrafen. Die Begrenzung von Höchsthaftdauern. Das Strafziel der Resozialisierung anstelle der Rache. (Robert Spaemann argumentiert ethisch – seine Argumentation ließe sich aber auch als rechtsphilosophische Begründung der genannten Rechtsinstitute aus der Menschenwürde heraus lesen: »Die wirkliche Verzeihung bejaht die Natur des Anderen und stellt sie in ihrer humanen Teleologie wieder her. Sie entdeckt sogar noch in der negierten Handlung die positiven Möglichkeiten, deren Pervertierung die Handlung war.«)
Für Hannah Arendt bedeutete Verzeihen, dem anderen einen Chance auf einen Neuanfang zu geben. Die immer einfachere technische Auffindbarkeit unserer Vergangenheit läßt sich rechtlich nicht wirksam mildern. Es braucht einen Ethos des Umgangs mit unseren Verfehlungen (und unseren früheren Entscheidungen allgemein). Für den Journalismus wie für einen allgemeinen Ethos des Veröffentlichen heißt das: Nicht nur den Standard des unbestechlichen, sauber recherchierten, nur der Wahrheit verpflichteten Journalismus – sondern gleichzeitig Respekt vor den Objekten der Berichterstattung – sie sind ja Subjekte. Und: Auch in der harten Kritik die Möglichkeit des Verzeihens (und des Bittens um Vergebung) offenhalten.
Ich habe Dein Blog erst vor Kurzem entdeckt. Es gefällt. Insbesondere die Rückgriffe auf Arendt.
Freiheit und Verantwortung und Verzeihen. Seit ich Arendt gelesen habe, gehören diese drei für mich unmittelbar zusammen.
Und trotzdem zum Thema des Blogs: Journalisten gebärden sich als vierte Gewalt, als Beschützer der Demokratie und der Wahrheit. Und dabei schießen sie einen Wulff ab, gnadenlos, und nutzen eifrig die geldwerten Vorteile, die der Journalistenausweis ihnen sichert.
Verzeihen? Gerne. Aber der Ton muß sich in der ganzen Gesellschaft ändern, von Wulff, bis Sarrazin, bis Helmut Kohl bis zu den Journalisten.
Solange das nicht passiert gilt für mich: Journalisten genauso hart anfassen wie alle anderen. Eher härter – den in deren Zunft hacken die Krähen sich die Augen noch weniger aus als sonstwo. Und Macht haben sie längst zuviel.
In meinem Entwurf des Artikels hatte ich für den Schluß noch einen Schlenker zu Wulff und Guttenberg, den ich gestrichen habe, weil der jetzt letzte Satz mir als viel besserer Schluß schien.
In der Sache widerspreche ich Dir auch mit meiner Schwerpunktsetzung eigentlich nicht übermäßig; kritisiert wird ja gnadenloser Journalismus, Daisy selbst sieht sich mehr als Künstler als als Journalist (und das hat ihm das Genick gebrochen, weil seine Kunst so journalismusförmig wirkt). Ich stelle ja Überlegungen zu einem journalistischen Ethos an.
Journalismus ist da in einem Dilemma: Es müssen klar Mißstände benannt werden, dabei müssen Roß und Reiter auch benannt werden. Gerade die Fälle Wulff und Guttenberg bringen noch einen anderen Aspekt ein: Daß unsere politische Kultur keine ist, die Fehler toleriert. Die Medienberichterstattung wurde auch immer kleinlicher, immer aggressiver, weil fortwährend geleugnet wurde, selbst das, was bewiesen war; mangelnder Rücksichtnahme der Medien stand mangelndes Fehler- und Problembewußtsein entgegen. Das ist nicht nur ein persönlicher Fehler der Betroffenen, sondern auch ein systemischer: Es ist politisch kaum möglich, Fehler einzugestehen, ohne das Gesicht zu verlieren. Oder besser: Die Betroffenen glauben das, und daher wohl auch diese trotzige Bunkermentalität. (Daß öffentliche Reue funktionieren kann, zeigt der Fall Käßmann: sie hat durch ihre Ehrlichkeit und Reue trotz dämlichstmöglicher Verfehlung nicht Respekt und Wertschätzung eingebüßt.)
Mir fehlt auch eine gewisse moralische Abrüstung: Du sprichst Sarrazin an. Mir fallen noch Themen wie der Euro-Rettungsschirm allgemein und Frank Schäffler im besonderen ein. Die Positionen kann man kritisch diskutieren, manches (wie Sarrazins kruder Biologismus) auch in aller Deutlichkeit ablehnen. Politische Positionen rundweg als indiskutabel abzulehnen sollte sich auf wenige, sehr fundamentale Dinge beschränken, wo es wirklich und direkt um die Menschenwürde geht. Wenn aber – ich nehme die Euro-Krise mal als Beispiel – schon der Verweis auf geltendes Recht wie die No-Bail-Out-Klausel als europafeindlich und zersetzend gebrandmarkt wird, wenn Themen (wie die Insolvenz von Staaten) kategorisch aus dem Diskurs herausgenommen werden sollen (das hat sich ja mittlerweile geändert), dann verliert die öffentliche Debatte, weil eine nüchterne Debatte nicht mehr möglich ist. Moralisch aufgerüstete Debatten nach dem Freund-Feind-Paradigma bestärken bestenfalls die einzelnen Lager in ihrer vorgefertigten Meinung. (Vorbildlich fand ich hier Gauck in seinem vielkritisierten SZ-Interview zu Sarrazin) In der Sache bin ich fest auf der Seite von John Stuart Mill: Unpopuläre (oder sehr populäre) Meinungen sind weit weniger gefährlich als ihre Unterdrückung – eine nüchterne, sachliche, offene und freie Diskussion, geführt mit Anstand und Respekt, auf der Basis der Annahme der grundsätzlichen Einsichtvermögen des Gegenüber, ist das wirksamste Mittel gegen Unsinn.
Ergänzung: Ich möchte Dir auch gar nicht widersprechend. Ich möchte unterschreiben, was Du schreibst.
Nur ausgerechnet diesen Aufhänger hätte ich als allerletzten gewählt.