Ist der Papst, ist der Vatikan, ist die Kirche in der Moderne angekommen? Es häufen sich die Artikel mit dieser Fragestellung (zuletzt etwa Jan-Heiner Tück in der NZZ); gemeint ist natürlich: Im Jetzt angekommen.
Wird die Frage nach der »Moderne« gestellt, verstellt das einen wichtigen Zug in der Theologie Benedikt XVI. und der Kirche überhaupt: Daß sie nämlich in ihrer Lehre und ihrem Handeln im geistesgeschichtlichen Sinn eine Institution der Moderne par excellence ist – und genau das ist das Problem. Während umgangssprachlich die Kirche nicht modern ist, ist der Kern der benannten Probleme ihr Ausblenden postmoderner Theorie, Praxis und Lebenswelten.
»Moderne« im geistesgeschichtlichen Sinn ist nicht einfach »das, was gerade modern« ist. Mit der Moderne verbunden sind Namen wie Descartes und Spinoza, die in großem erkenntnistheoretischen Optimismus das Projekt betrieben, die Welt rational zu beschreiben. Mathematik, Mechanik, das Vertrauen auf die Versteh- und Beschreibbarkeit der Wirklichkeit kennzeichnen diese Philosophie. Spinoza wollte die Ethik more geometrico, auf geometrische Art, behandeln. »Moderne« ist dabei ein schillernder Begriff, und ihr Beginn setzen unterschiedliche Disziplinen ganz verschieden: Montaigne, die Aufklärung, der Fall Konstantinopels, die französische Revolution, die »Entdeckung« Amerikas, Luther, kunsthistorisch der Realismus des 19. Jahrhunderts und sicher vieles mehr.
Nur halb unernst sprach mein Philosophiegeschichtelehrer, Maarten J.F.M. Hoenen, von seinem langen Modernebegriff: Mindestens von der Scholastik bis Nietzsche, aber vielleicht sogar von Sokrates bis Freud sei die Moderne anzusetzen. (Ein Gedanke, der auch Nietzsche bei der Konzeption seiner Fragment gebliebenen Empedokles-Tragödie antrieb; Nietzsche sah den Vorsokratiker Empedokles und sich selbst als die zwei Exponenten, die jeweils eine geistesgeschichtliche Achsenzeit kennzeichneten. Empedokles an der Schwelle vom Mythos zum Logos, Nietzsche an der Schwelle der endenden Herrschaft des Logos. Bei Hoenen war das unterscheidende die Anthropologie: Sokrates holte den Menschen aus der Natur heraus, Freud setzte den Menschen endgültig wieder dorthin zurück – durch die letzte der drei narzißtischen Kränkungen des Menschen.)
Dieser lange Modernebegriff ist ergiebig: Die sokratische Methode des kritischen Fragens, Descartes mechanistisches Weltbild, der Vernunftoptimismus der Aufklärung und die finalisierten Welt(erklärungs)bilder der Großideologien – immer läßt sich das spezifisch Moderne in diesen ganz verschiedenen Phänomenen auf den Begriff der Wahrheit bringen. Es gibt eine Wahrheit, und es gibt eine Wahrheit, und diese Wahrheit ist der Vernunft zugänglich. (Die Pathologien dieses Wahrheitsanspruchs hat Hannah Arendt in ihrem Ideologiebegriff beschrieben ebenso wie Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihrer »Dialektik der Aufklärung«. Wahrheit und Reinheit zu kennen und zu haben schlägt allzu schnell in Tugendterror und Säuberung um.)
Die Modernität der Kirche ist in ihrer Anfangsphase die Hellenisierung; die klare Unterscheidung von wahr und falsch, der absolute Anspruch, der aus der griechischen, besonders der platonischen Philosophie in die jüdisch geprägte geistige Kultur des Christentums integriert wurde, die Markierung von Häresie und Heterodoxie. (Johann Baptist Metz führt in seiner Theologie pointiert den Unterschied zwischen der leiblichen, leidsensiblen jüdischen Geisteswelt und der hellenistischen, sauberen, reinen, wahren Geisteswelt vor – wobei bereits der strenge jüdische Monotheismus moderner als sein religiöses synkretistisches Umfeld war.) Die Lehrverurteilungen und dogmatischen Definitionen der frühen Konzile waren ein »modernes« Phänomen: Klare Definitionen, klare Abgrenzungen, klarer, bestimmtbarer Wahrheitsanspruch. Radikalisiert wurde diese immer schon im Christentum vorhandene moderne Tendenz mit dem Konzil von Trient (zwischen 1545 und 1563, ein halbes Jahrhundert vor Descartes Geburt), das mehr Ordnung und Struktur in die Kirche brachte: eine Regelung der Priesterausbildung, Einführung der Formpflicht bei der Eheschließung, als Nachwirkung die Vereinheitlichung der Liturgie. Auf die Spitze getrieben hat das schließlich das Erste Vatikanum im späten 19. Jahrhundert, das ironischerweise ausgerechnet gegen »modernistische Irrtümer« vorgehen sollte. Im Jurisdiktionsprimat und der Unfehlbarkeit des Papstes wurden zwei Grundsätze festgeschrieben, die wesentlich die Aufgabe haben, Unsicherheit, Kontingenz und Pluralität (»Diktatur des Relativismus«) zu bewältigen durch eine klar definierte Instanz zu ersetzen, die mit objektivem Anspruch wahr von falsch scheiden kann. Die Geschichte der Kirche als eine Geschichte der Verrechtlichung und Rationalisierung, aber auch des Abwehrkampfs gegen eine Welt widersprechender Wahrheitsansprüche.
Was die Kirche als Modernismus bezeichnete, sind die Vorboten der Postmoderne: Ein Pluralismus an Weltanschauungen und Werten und die Notwendigkeit, damit schiedlich-friedlich zu leben. Wo verschiedene Konfessionen, Religionen, Klassen und Stände aufeinandertreffen und unter der egalisierenden Wucht des Kapitalismus (denn das ist ein Kernmerkmal des Kapitalismus: die Fiktion der Gleichheit der Beteiligten) nicht nur wirtschaftliche, sondern auch persönliche Beziehungen entstehen (denn keine Beziehung ist »rein« ökonomisch), da ist die abweichende Meinung immer schwerer als das radikal andere zu markieren. Toleranz senkt die sozialen Transaktionskosten der gesellschaftlichen Differenz, und Toleranz wächst zu Akzeptanz, Respekt und Verständnis des Anderen – mit potentiell verheerenden Wirkungen auf ideologische Reinheit. (Peter Singers Umgang mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter entspricht nicht seiner radikal modernen Ethik, und ausgerechnet Dick Cheney ist ein Fürsprecher der Homoehe – und die katholische Position, gleichzeitig die Diskriminierung von homosexuellen Neigungen und ihre Ausübung abzulehnen, funktioniert nur auf dem Papier des Katechismus.)
Mit dem Pluralismus der Werte geht auch ein Pluralismus der Weltdeutungen einher: Es ist nicht mehr einfach möglich, auf die Natur der Dinge zu verweisen und davon auszugehen, daß diese Natur allen Menschen gleichermaßen verstandesmäßig zugänglich ist. Unterschiedliche Sozialisation, unterschiedliche soziale und geographische Herkunft resultieren in einer Vielfalt von Weltdeutungen. An die Stelle des Optimismus der Aufklärung tritt die Einsicht in die Komplexität der Welt. Vielleicht gibt es eine objektive, wirklich wahre Wahrheit. Die Realität ist aber so komplex, daß es unzählige Zugänge dazu gibt; das Wissen ist so breit gefächert und ausgearbeitet, daß keine Weltdeutung vor dem Horizont des gesamten zugänglichen Wissens mehr möglich ist; jede Weltdeutung ist eine ausschnittsweise Deutung aus einer bestimmten Perspektive. Objektiv ist nur das Ding vorne am Foto.
Dagegen stellt die Kirche ihren Wahrheitsanspruch – und in diesem Sinn ist die Theologie Benedikts XVI., sein Platonismus, sein Wahrheits-, Reinheits- und Vernunftanspruch und das Starkmachen eines normativ aufgeladenen Naturbegriffs modern, und der epistemologische Dschungel der Postmoderne ist aus dieser Warte nicht intellektuell befruchtender Pluralismus, sondern Diktatur des Relativismus. Oder, die Weltsicht des Papstes polemisch mit Flaubert beschrieben: »Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben, aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug, ihn zum Einsturz zu bringen.«
Über den Wahrheits- und Naturbegriff Benedikts habe ich anläßlich der Rede im Bundestag schon einmal ausführlich geschrieben.
Und was ist die Quintessenz dessen?
Gilt “niemand kommt zum Vater denn durch mich” oder gilt es nicht?
Ist es modern oder nicht?
Ist es Elfenbeinturm – und wenn ja, wird die Scheiße ihn zum Einsturz bringen?
Die Quintessenz ist: Ich sehe die Gefahr, daß sich die Kirche theologisch von der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung entkoppelt und praktisch unfähig wird, die Welt angemessen wahrzunehmen und auf sie zu reagieren; mit orthodoxer Dogmatik ist dem Wissensfortschritt zum Beispiel in der Anthropologie nicht beizukommen. In der Kirche wird noch ganz binär über Männer und Frauen verhandelt (und selbst das führt zu größten Konflikten), während längst klar ist, daß mit derart scharf gezogenen Kategorien dem komplexen Feld »Geschlecht« nicht beizukommen ist – Intersexualität, Transsexualität, soziale Konstruktion von Geschlechterrollen kann nicht angemessen theologisch bewertet werden, wenn sich die Theologie und die Kirche nicht auf fließendere, unsauberere, weniger klar abgegrenzte Kategorien einläßt und stattdessen immer noch im Grunde Gen. 1,27 als absolute empirische Aussage zur Geschlechtskonstitution liest. Die pastorale Sprach- und Handlungsunfähigkeit folgt darauf.
»Niemand kommt zum Vater außer durch mich« hat im Laufe der Kirchengeschichte engere und weitere Interpretationen gefunden; und dazu braucht es gar nicht mal den Blick auf eine protestantische Ekklesiologie (die bei aller Pluralität doch auch das solus Christus zum Prinzip hat), auch die katholische Theologie ist längst über »extra ecclesiam nulla salus« hinaus. Unitatis redintegratio und noch viel deutlicher Nostrae aetate legen dar, wie das solus Christus aus Joh. 14,6 nicht auf einen absoluten, binären Heilsexklusivismus hinauslaufen muß, sondern daß angesichts der Selbstoffenbarung Gottes in eine Welt freier Menschen auch andere Religionen daran teilhaben können.
Nostra aetate, überhaupt die Dokumente des 2. Vatikanums, sind schöne Beispiele dafür, wie ohne »Diktatur des Relativismus« ein offener und wertschätzender Umgang mit einer pluralen Welt möglich ist – und deshalb knallt es auch gerade wegen diesem Dokument so mit der hypermodernen Piusbruderschaft.
Das ist wirklich eine gewagte Überschrift. Ich glaube, solange der Papst und die katholiche Kirche ihren Priestern die Ehe verwehren, kann man nicht sagen, dass die katholische Kirche in der Moderne angekommen ist.