Es gibt Dinge, auf die kommt man einfach nicht. Daß bei der Abschaffung der Wehrpflicht etwa nicht die Musterung abgeschafft werden könnte. Unter den Bedingungen einer Wehrpflicht ist diese Zwangseinstellungsuntersuchung wohl tatsächlich zwangsläufig notwendig. Mit dem Verzicht wird es aber absurd. Während das der Verteidigungsminister wohl auch so sieht, kommen aus der SPD Stimmen gegen eine Abschaffung der Musterung:
Die Musterung sei ein zentrales Instrument, um mit wehrpflichtigen jungen Männern überhaupt in Kontakt zu treten, sagte Bartels dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Die Musterung zeigt auch in Friedenszeiten die Essenz des Geisteshaltung, die hinter staatlichen Zwangsdiensten steckt. An der Musterung wird deutlich, wie der Staat seinen Bürgern gegenübersteht: Menschen als Verfügungsmasse.
Ein wunderbares Beispiel konservativer Geisteshaltung findet sich in der Badischen Zeitung, wo der 18jährige Aristid Klumbies mit diesem feuchten Traum jedes JU-Funktionärs zitiert wird:
»Die Musterung abzuschaffen finde ich nicht gut. Erstens hat sie Tradition und zweitens bietet sie für jeden jungen Mann eine Orientierung«
Als hätte Willy Brandt nicht schon vor einiger Zeit festgestellt, daß die Schule der Nation die Schule ist. Vordergründig ist es schon eine tolle Orientierung, die jungen Männern mitgegeben wird. Das Orientierungswissen, das mir der berüchtigte Husten-Sie-Mal-Hodentest beschert hat, hätte mir allerdings mein Hausarzt auch verschaffen können. (Während ich das Trauma, nie Pipeline-Pionier werden zu dürfen, immer noch nicht ganz überwunden habe.) Auch interessant das Orientierungswissen, zu einem einig Volk von Invaliden zu gehören (in Freiburg werden 44 Prozent eines Jahrgangs ausgemustert).
Vor allem aber nordet die Musterung gründlich das Staatsverständnis ein: Der Staat hat Verfügungsgewalt über den Körper. Schon im Musterungsbescheid findet sich eine erste Androhung unmittelbarer staatlicher Gewalt als körperliche Gewalt: Daß man bei Nichterscheinen von den Feldjägern geholt werde.
Das liberale Axiom vom Selbsteigentum an der eigenen Person gilt hier nichts. Das demokratische Axiom, daß der Staat um der Menschen willen besteht (und nicht umgekehrt), gilt nicht, wo Grundrechte suspendiert werden, wo im Namen des Kollektivs der Einzelne derart total einvernahmt wird. Und Grundregeln des Anstands gelten nicht, wo Probanden derart geschäftsmäßig am Fließband abgefertigt werden:
Wie man im Grobripp mit Eingriff leicht fröstelnd in der Kabine wartet. Wie man mit zwanzig anderen dasitzt, alle den Pinkelbecher in der Hand. […] Wie man dann Ärzten mit schweißfeuchten Patschhänden gegenübertritt, die als medizinisches Personal in jeder Klinik ausgemustert gehörten. Nirgendwo riecht es so übel wie in diesen Behandlungszimmern, nirgendwo sind zehn Liegestütze so demütigend.
(Aus einem sechs Jahre alten taz-Artikel – die Abschaffung der Zwangsdienste schien schon einmal zum Greifen nah.)
Das alles loszuwerden, ist eine der großen Chancen, wenn die Wehrpflicht abgeschafft wird. Ohne Wehrpflicht wäre die Musterung noch absurder, und umso deutlicher würde ihr Charakter: Wenn es keine unmittelbare Notwendigkeit für sie gibt, wenn sie gar – wie oben zitiert – allein damit begründet wird, daß man über sie mit jungen Männern in Kontakt treten kann – dann zeigt sich deutlich, wer Kellner ist und wer Koch im Rahmen der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«.
Daß ausgerechnet aus den Reihen der Sozialdemokratie Stimmen für die Musterung kommen, ist umso trauriger – aber anscheinend wird linkes Liedgut dort nur noch folkloristisch gesungen: »Denn eine Uniform, die imponiert enorm; / Vor der gibt’s keinen Sozialismus mehr« – und einen wirklich freiheitlichen Staat auch nicht, wo das Primat des uniformen Zwangs herrscht.
Ergänzung, 16. September 2010: Gestern abend ganz vergessen habe ich die Skulptur auf dem Bild oben, die vor dem Freiburger Kreiswehrersatzamt (der Name schon!) steht. Mit großer Deutlichkeit und Chuzpe wird hier der Musterungskandidat als austauschbar dargestellt; keinerlei individuelle Charakteristika, fließbandartig aufgereiht. Kunst am Bau kann sehr subversiv sein.
Nur so am Rande: Der Teebeutel- und Prostatatest bei der Musterung scheint denen vorbehalten zu sein, die von Anfang an ihre KDV erklären; wer dagegen angibt, den Zivildienst verweigern zu wollen, muss sich höchstens in die Ohren gucken lassen.
Heimliche Rache der Feldscher, die winselnde Jünglinge nicht mehr mit einem gebrüllten “k.v.” in die vor-brandtsche Schule der Nation schicken dürfen.
Wer Augen hat zum sehen, der sehe! (frei nach LK 14,35)
Ist doch faszinierend, dass das Kreiswehrersatzamt so deutlich sein Menschenbild zeigt. Wir sollten öfters hinsehen.
Danke für Wort und Bild.