Daniel Miller geht das Thema Facebook in »Das wilde Netzwerk« ethnologisch an: Mit dem Blick auf fremde Kulten – bei ihm ist es die Trinidads – wird das vom bekannten unsichtbar gemachte sichtbar gemacht.
Das funktioniert hier sehr gut: Meine These war bisher immer, daß sich gesellschaftliche Normen für das Netz erst bilden müßten – und wir deshalb noch hilflos vor Phänomenen wie unklaren Grenzen zwischen öffentlich und privat und dem Umgang mit quasi transaktionskostenloser Kommunikation stehen.
Miller dagegen bestätigt wieder einmal Felix Schwenzels These, daß das Internet primär deshalb scheiße sei, weil die Welt scheiße ist:
[D]as Erfolgsheimnis von Facebook und ähnlichen sozialen Netze [beruht] nicht auf Innovation, sondern auf Konservatismus […]. In allererster Linie ist Facebook ein im Wortsinn soziales Netzwerk. […] In gewissem Maß hilft uns Facebook dabei, den Niedergang der Geselligkeit umzukehren und den Schaden zu reparieren, den wir durch den Verlust enger Beziehungen zu erleiden meinen. Daher ist das entscheidende Attribut des Netzwerks nicht irgendein neaurtiges »Feature«, sondern das Maß, in dem es uns hilft, die verloren geglaubte Einbettung in soziale Netzwerke zurückzugewinnen. (S. 212)
Diese Deutung scheint mir enorm plausibel, auch und gerade bei all dem Negativen, was sozialen Netzen nachgesagt wird: Cyber-Bullying, Mobbing, Verlust der Privatsphäre. Mit Millers These betrachtet wird offenbar, daß das gar nichts neues ist – sondern die Überführung des einengenden, spießigen Dorflebens mit seinen starken Bindungen, die um den Preis sozialer Kontrolle Zusammenhalt und Solidarität sichern. Soziale Netze sind gerade nicht schuld an einer »postmodernen« Vereinzelung und Individualisierung bei gleichzeitiger Globalisierung (vgl. S. 174f.); sie wirken dem vielmehr entgegen.
Was die Studie nicht leisten kann (und auch nicht versucht), ist daraus Schlüsse zu ziehen für Normbildungen im Netz. Im Dorf jedenfalls gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten: Konformität – oder die Flucht in die von drückender sozialer Nähe freie Stadt. (Das Kappen der Netze ist aber gerade da keine Lösung, wo die Bindungen auf Zwang und in der Kohlenstoffwelt angelegten Notwendigkeit basieren wie in der Schule. Nicht umsonst benutzen die alten Griechen für Zwang, Notwendigkeit und Folter ein einziges Wort.)
Über die negativen Aspekte der Enge hinaus finde ich es auch interessant, ob und wie der Aspekt der Solidarität dadurch neu belebt werden kann: Soziale Netze als Katalysatoren für Nachbarschaftshilfe (mit nicht lokal, sondern sozial definierter Nachbarschaftlichkeit), gegen Einsamkeit im Alter. Noch ist die Netzdemographie so, daß derart existentielle Solidarität meistens nur Notfälle betrifft; diejenigen, die sie nötig haben, sind Offliner, die das auch bleiben – weniger aus eigener Schuld als vielmehr durch das Versagen vermittelnder Instanzen (etwa durch das netzpolitische FUD der Parteien und Medien, die diese Gruppen primär politisch vertreten).
Das Datenmaterial für Millers Studie sind aus der Breite der Gesellschaft schöpfende Portraits und explizit keine Nerds. Er zeichnet nach, wie sie Identität konstruieren (und warum das weder neu noch verwerflich ist), wie sie ihre Kontakte und ihr Sozialleben mit Facebook verwalten und gestalten.
Das ist das große Verdienst der Studie: Es wird gezeigt, wie das Netz keine virtuelle Angelegenheit ist, kein künstlich auf das »echte« Leben aufgepropftes Gadget ist, sondern in bestehende und sich entwickelnde Praktiken eingewoben ist – und daß (nach der Säkularismus-These) auch die Vereinzelungsthese so absolut nicht gelten kann.
Daniel Miller, Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook. Frankfurt 2012.
Ergänzung, 7. Juni 2012: Alfons Motschenbacher hat in seinem neuen Blog auch »Das wilde Netzwerk« rezensiert. Er geht in seiner lesenswerten Rezension etwas mehr auf den Inhalt ein; den auch von mir interessant gefundenen Gedanken gibt er so wieder:
Überrascht hat mich als Nichtsoziologen freilich Millers daraus resultierende These 6: „Mit Facebook enden zwei Jahrhunderte der Flucht aus Gemeinschaften“(S.161ff.). Nach Kämpfen um Befreiung aus Zwängen und Enge, für mehr Freiheit und Individualität wäre dies nun Ausdruck und Teil einer Gegenbewegung, in der man Isolation und Anonymisierung zu entfliehen sucht. Das Internet und speziell die sozialen Netzwerke fördern demnach eine Renaissance der Gemeinschaft, insofern Facebook und Co. dem Einzelnen die Chance bieten, alte, zum Beispiel durch Mobilität etc. zerbrochene Beziehungen wiederherzustellen: „In gewissem Maß hilft uns Facebook dabei, den Niedergang der Geselligkeit umzukehren und den Schaden zu reparieren, den wir durch den Verlust enger Beziehungen zu erleiden meinen. Daher ist das entscheidende Attribut des Netzwerkes nicht irgendein neuartiges ‚Feature‘, sondern das Maß, in dem es uns hilft, die verloren geglaubte Einbettung in soziale Netzwerke zurückzugewinnen.“ (S. 212)