Der CCC erscheint mir zunehmend wie Methusalix: Ich habe nichts gegen Zukunft. Aber diese Zukunft ist nicht aus den 80ern. In der FAZ malt Constanze Kurz sich genüßlich ein Szenario aus, in der Google-Dienste ausfallen und damit Datenbrillen nuzlos werden. Groß argumentieren muß sie nicht, sie zeigt einfach, wie dumm die Menschen sind, die einen bestimmten technischen Dienst deshalb nutzen, weil er nützlich ist. Das grundsätzliche Problem dieses Szenarios ist sein Status-quo-Bias.
Status-quo-bias ist das deshalb, weil das Szenario nichts zeigt, was Google-Glass-spezifisch, was Google-spezifisch, was auch nur Cloud-spezifisch wäre. Es will nur zeigen, daß die Welt ohne diese spezielle Innovation besser wäre, und daß diese spezielle Innovation sowieso unnötig, dumm und verdummend ist. Vorgestellt wird eine Welt wie unsere, plus Google Glass, und der Ausfall dieses proprietären Werkzeugs verweist die Menschen darauf, was das eigentlich Wahre, Echte, Schöne, Gute ist. (Das Szenario funktioniert überhaupt nur deshalb leidlich, weil ein Monopol behauptet wird – als wären bei einem Google-Glass-Erfolg nicht sofort Amazon, Facebook, Apple, zwei Y-Combinator-Startups, drei Kickstarterprojekte und eine Linuxdistribution dabei, Alternativen zu entwickeln.) Angeschmiert sind die, die diesen neumodischen Unsinn verwenden, und jetzt zeigt sich, daß dieses neumodische Zeug nicht »echt« ist, nicht so verläßlich wie die Werkzeuge der guten alten Zeit:
»Die Kellner in den Cafés kramten irgendwoher alte Zettelblöcke und Taschenrechner heraus. Die Älteren zeigten den studentischen Aushilfskräften, wie man ohne technische Hilfe Bestellungen aufnimmt und abrechnet.«
Das alles stimmt natürlich. Und zwar für ausnahmslos jegliche Technik. Wenn die für die Nutzung eines Werkzeugs oder einer Kulturtechnik notwendige Infrastruktur wegfällt, fällt eins auf die basalere Technik zurück, und was eben noch praktisch war, ist in seinem Fehlen aufdringlich unpraktisch. Das gilt für Google Glass so wie für den Taschenrechner, dessen Batterien leer sein können, oder der nach dem EMP-Schock zusammen mit aller Elektronik nicht mehr funktioniert, für die angebaggerte Telefonleitung und den Stromausfall.
Aber ist das zu Ende gedacht ein Argument für irgendetwas außer völlig autonome Selbstversorgung? Selbstversorgung für alle hatten wir, ganz früher – solitary, poor, nasty, brutish, and short. Selbstversorgung macht es nötig, daß alle alles leidlich können müssen. Spezialisierung und Arbeitsteilung erhöht das Angewiesensein auf andere und bringt damit neue Risiken, erleichtert aber in der Summe das Leben so ungemein, daß wir das so weit getrieben haben, daß allein so gut wie niemand mehr überleben könnte. Natürlich ist es sinnvoll, noch etwas in der Hinterhand zu haben; zu jedem Werkzeug gehört Gefahrenabwägung, ein gewisses Maß an Technikkompetenz, gesundem Menschenverstand, Kreativität und Freude am Hack zu haben. Es ist nett, Spaß an der Axt im Haus zu haben, aber warum sollten alle soviel Spaß daran haben, daß sie sich den Zimmermann ersparen können?
Das Szenario von Kurz funktioniert dann als Kritik an Google Glass, wenn ein essentieller Unterschied zwischen dem Status quo der Technik und Glass besteht – ansonsten ist es nur ein willkürlicher Punkt in der Technikgeschichte, an dem eine Standardsituation der Technologiekritik auftritt, die in wenigen Jahren bestenfalls noch kurios anmutet, heute aber als Untergang und Umwertung aller Werte gelesen wird – oder wie es Douglas Adams beschreibt: »Anything invented after you’re thirty-five is against the natural order of things.«
Kurz reduziert die Hackerethik, als gelte allein »Mißtraue Autoritäten – fördere Dezentralisierung« als erste und alles überstrahlende Regel. Alle Argumente, die Kurz anführt oder andeutet, könnten gegen jedwede Technik gerichtet werden. Übrig bleibt dann eine hochgradig elitäre Technikethik: Nur wer alles ins kleinste selbst und allein versteht, auseinander- und wieder zusammenbauen kann, geht verantwortlich mit Technik um, alle anderen sind Sheeple (auch zur Zeit eine typische CCC-Tendenz) – hinunter fällt ein weiterer Punkt der Hackerethik: »Computer können dein Leben zum Besseren verändern.« Das ist ganz grundsätzlicher Technikoptimismus, Freude am Gerät, aber auch: Werkzeuge nutzen, weil sie praktisch, schön oder geeignet sind, und zwar nicht nur für eine Technoelite.
Die Michael-Strohmann-Interpretation von Kritik an zentralisierten proprietären Systemen zeichnet sich durch Schwarz-Weiß-Denke aus. Eine mögliche Alternative: Nutzer sollten nicht notwendigerweise alles verstehen – sie sollten sich allerdings nie die Möglichkeit verbauen, im Zweifelsfall die Zügel in die Hand zu nehmen (oder jemanden dafür zu bezahlen). Weswegen unterschlägst du diese Option?
Man könnte behaupten, das sei implizit enthalten beim Verweis auf die “Nachzügler” im Erfolgsfall:
“als wären bei einem Google-Glass-Erfolg nicht sofort Amazon, Facebook, Apple, zwei Y-Combinator-Startups, drei Kickstarterprojekte und eine Linuxdistribution dabei, Alternativen zu entwickeln.”
– und dass es solche Nachzügler geben wird, erscheint äußerst wahrscheinlich.
Man kann also vor diesem Hintergrund Google Glass auch – quasi als Katalysator – begrüßen und gleichzeitig ein Verfechter der Selber-die-Zügel-in-die-Hand-nehmen-Option sein. Passiert aber seitens der CCC-PR-Riege nicht.
Ja, die Aussicht auf Wettbewerb sehe ich als solche möglichen Alternativen. Das geschilderte Szenario tut so, als würde natürlich und alternativlos genau dieses und nur dieses eine System da sein – geschildert wird ja eine Welt, in der Glass und nur Glass sich durchgesetzt hat, und daher kann es zum großen Ausfall kommen.
Selbst wenn es Alternativen geben sollte (ich halte das für wilde Spekulation), ändert dies nichts am Vorhandensein der von Kurz kritisierten Selbstentmündigung von Nutzern von Google Glass. Ich halte jegliche Macht-Abgabe, die nicht notwendigerweise im Rahmen der Nutzung eines technischen Produktes statt findet, für falsch und finde – um mal ein lebensnäheres Beispiel dafür zu nennen – dass das Verkaufen von Rechnern mit gesperrten Bootloadern verboten gehört.
Google Glass erscheint, niemand wird es so umbauen, daß es ohne Google-Dienste laufen wird?
Google Glass wird ein großer Erfolg, und niemand baut ein konkurrierendes System?
Das sind völlig abwegige Szenarien (bereits jetzt sind diverse mehr oder weniger fertige Datenbrillen in Aussicht), was Du für wilde Spekulation hältst, ist nicht nur wahrscheinlich, sondern nahezu sicher.
Selbstentmündigung ist mir zu normativ aufgeladen für etwas, was konstituierend für eine Welt ist, die nicht bloß aus völlig autonomen Selbstversorger_innen besteht. Ja, es ist Abgabe von Kontrolle; Komfort, der mit trade offs verbunden ist. Das ist ein völlig normaler und notwendiger Vorgang in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, und die Problematik von Machtabgabe stellt sich für Leute, deren Kompetenzen nicht im technischen liegen, völlig anders dar als für Nerds, die eigene Mailserver betreiben können: Was für Nerds Freiheitseinschränkung ist, ist für manche Nicht-Nerds erst die Ermöglichung von Freiheits-Ausübung.
Ich erlaube mir, in Unkenntnis des besprochenen Artikels zu kommentieren, weil ich a)immer ein Freund von Kritik des Technikdeterminismus bin und b)an der Stelle von Google Glass tatsächlich einen absehbaren sozialen Effekt schon jetzt sich abzeichnen sehe (was, nebenbei, mal völlig Anti-McLuhan ist, wer hätts gedacht). Die “social affordances” der Technik sind völlig inkompatibel mit den bestehenden kulturellen Praxen, in denen Öffentlichkeit und Privatheit verhandelt werden. Gerade in Deutschland möchte ich fast sagen, ist Google Glass schon vom Ansatz her schlicht illegal. Nimm mal die Google Streetview Debatte und füg dann noch diverse soziale Faktoren hinzu, mit denen ein Träger der Brille als Intermediär Googles Eindringens in jederfraus Privatsphäre agiert. Fuckig culture war waiting to happen. Und zwar wörtlich. Auf. Die. Fresse.
Ja, es wird spannend. Allerdings glaube ich, daß Datenbrillen bei Erfolg anderswo auch bei uns normalisiert werden. Ich fände es interessant, was passieren würde, wenn Google es jetzt noch mal mit Streetview in Deutschland versuchen würde, nachdem die erste Aufregung abgeklungen ist und Streetview vermutlich schon mehr (etwa zur Urlaubsplanung) verwendet wird.
Der Vorteil einer frühen, klobigen Entwicklungsstufe wie Glass ist auch gerade die Sichtbarkeit: Normen und kulturelle Praxen können entwickelt werden, solange die Benutzung noch nicht unauffällig möglich ist.
Was mir allerdings bereits mit bestehenden Techniken auffällt: Die Zukunft ist extrem ungleichmäßig verteilt; während sich schon relativ verläßliche Normen herausgebildet haben, wovon zu twittern ist und wovon nicht, und das auch in entsprechend medienaffinen Kreisen auch recht gut funktioniert, sehe ich gerade bei älteren, weniger techsavvy Leute eine enorme Unsicherheit; in vertraulichen Sitzungen und Gesprächen wundere ich mich immer wieder, wie oft explizit gewünscht wird, nicht zu twittern – als ob es nicht völlig selbstverständlich wäre, nicht aus dem Gespräch über etwa Personalentscheidungen Öffentlichkeit herzustellen. Da ist ein enormes Unbehagen zu spüren mit einer Technik, die als präsent und relevant wahrgenommen wird, zu der eins selbst aber noch keinen Zugang hat. Mit Glass wird das potenziert.
Die Rechtfertigung von Straftaten ist hier aber sonst eher selten zu lesen. Außerdem ist der Bezug zur Hackerethik ziemlich krude. Und die Kritik an Atomwaffen ist sicherlich auch nur unausgereifte Technikfeindlichkeit?
Nein, der Bezug ist nicht krude, im Gegensatz zu Deiner unbegründeten Behauptung und albernen slippery-slope-Argumenten mit schiefen Vergleichen.
Es ist großer Unsinn, hier von einer Rechtfertigung von Straftaten zu sprechen. Das ist bloße Polemik, die über die Polemik hinaus nicht nachdenkt, was für Konsequenzen diese Argumentation hat. Das Mitführen von Kameras im öffentlichen Raum ist natürlich keine Straftat. Zu Ende gedacht, ist Dein bestenfalls angedeutetes Argument das Argument für eine strikte Auslegung des Hackerparagraphen § 202c StGB und eine Durchsetzung eines nationalen oder bestenfalls EU-weiten Intranets statt eines weltweiten Netzes.