Für die Zeitschrift Jugendpolitik des Deutschen Bundesjugendrings habe ich einen Artikel zu netzpolitische Handlungsoptionen für Jugendverbände geschrieben, die in der Ausgabe zum Thema »Digitale Agenda« erschienen ist. Der Artikel basiert auf einem Workshop für den BDKJ Bayern, zu dem die Folien auch online sind.
Netzpolitik. Herausforderungen und Baustellen für Jugendverbände
Einen Sommer hat es gebraucht, um Netzpolitik groß zu machen: Zur Europawahl im Frühjahr 2009 waren abseits von Breitbandausbau und innerer Sicherheit noch kaum netzpolitische Themen in den Wahlprogrammen der deutschen Parteien, zur Bundestagswahl im Herbst desselben Jahres hatten dann alle Positionen. Eine Reaktion auf das überraschend gute Abschneiden der Piratenpartei bei den Europawahlen, das zwar nicht für einen Einzug ins Europaparlament reichte, die Netzpolitik aber plötzlich von Kür zu Pflicht im Wahlprogramm erhob. Die Piraten sind mittlerweile – selbstverschuldet – aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerutscht, die Netzpolitik ist stärker denn je auch institutionell verankert: Ein Ministerium, das Verkehrsministerium, führt die digitale Infrastruktur im Namen, es gibt Zuständigkeiten im Innen- und Wirtschaftsministerium, es gibt einen Netzpolitik-Ausschuss im Bundestag (wenn auch mit eher geringem tatsächlichem Einfluss), alle Parteien haben Netzpolitiker_innen, die ernst genommen werden.
Die Jugendverbände haben nicht in gleichem Maße mitgezogen. Nicht, dass das Thema ganz ignoriert würde: Es gibt einige Stellungnahmen, vor allem zu bürgerrechtlichen Themen, immer wieder wird Medienkompetenz angemahnt, besonders bei den Jugendringen wird bei deren Kernthema Partizipation das Netz selbstverständlich mitgedacht. Dennoch bleiben Netzthemen randständig. Oft werden die Beschlüsse von den Tagesordnungen der Hauptversammlungen in die Ausschüsse verwiesen, die Kompetenzen sind im Vergleich mit hergebrachten Themen wie Ökologie, Frieden und Entwicklung wenig institutionell abgesichert, sondern werden dezentral von einzelnen interessierten Ehren- wie Hauptamtlichen abgedeckt. Hauptamtlich wird das Netz vorwiegend in den Öffentlichkeitsarbeitsreferaten angesiedelt, die inhaltlichen und politischen Referate sind oft nur am Rande damit befasst und haben ihre Kompetenzen auf anderen Feldern. (Wobei es natürlich auch Leuchttürme gibt: Der Landesjugendring Niedersachsen etwa beschäftigt sich seit Jahren auf der Höhe der Zeit mit dem Thema, der BDKJ-Landesverband Bayern arbeitet zur Zeit mit hoher Priorität an dem Thema und ist auch in der Vergangenheit mit qualifizierten Positionen zum Thema an die Öffentlichkeit getreten, und generell wird die Relevanz von Netzfragen flächendeckend gesehen.)
Angesichts der Bedeutung von Netzpolitik und Netzkultur für das Leben von Kindern und Jugendlichen wäre es angezeigt, das Thema stärker in den Jugendverbänden zu verankern und Kompetenzen aufzubauen. Dazu braucht es eine Übersetzung der oft komplexen technischen Fragen in Themen, die die jugendpolitische Relevanz deutlich machen. Viele netzpolitische Fragen sind im Kern gerade keine technischen und lebensferne Fachthemen begrenzter allgemeiner Relevanz, sondern die von den Jugendverbänden schon lange auf hohem Niveau begleiteten Teilhabediskurse auf die mediale und technische Öffentlichkeit der Gegenwart durchdekliniert.
Gründe für den geringen institutionellen Stellenwert von Netzpolitik liegen auch an der Zusammensetzung der Ebene der Verantwortungsträger_innen in den Jugendverbänden. Im Vergleich zur Gesamtgesellschaft sind hier eher technikkritisch eingestellte Menschen mit einer sozial-ökologischen Werthaltung überrepräsentiert. Viele Kinder und Jugendliche nutzen das Netz weit selbstverständlicher, unbefangener und unkritischer als die Funktionär_innen der Jugendverbände, und das ganz anders als ältere. Die hohe Dynamik des Feldes führt dazu, dass Wissen schnell veraltet und Kinder und Jugendliche völlig anders medial sozialisiert sind als bereits die hauptamtlichen Mitarbeiter_innen von Anfang bis Mitte 30. Organisations- und Strategieentwicklungsprozesse in den durch die demokratische und partizipative Struktur organisational hochkomplexen Jugendverbänden dauern teilweise länger als die Hochzeit bestimmter Plattformen. Während die Öffentlichkeitsarbeit in den sozialen Netzen, heute vor allem Facebook, noch professionalisiert wird und in vielen Verbänden noch in einer Experimentierphase steckt, verlagern Jugendliche ihre Kommunikation bereits auf andere Plattformen. (Die enorme Marktabdeckung von Facebook hat dazu geführt, dass zunehmend auch Eltern und Lehrer_innen präsent sind – kein gutes Vorzeichen für lebendige Jugendkultur; Facebook wird zwar weiterhin genutzt, für Jugendliche werden aber andere Plattformen wie YouTube, Tumblr und Whatsapp relevanter, die ihnen mehr Unabhängigkeit und weniger Kontrolle durch Autoritätspersonen ermöglichen, und wo es eine lebendige und dynamische Jugendkultur gibt, die weitgehend außerhalb des Radars der Verantwortlichen in der Jugendarbeit, aber auch der etablierten netzpolitischen und netzkulturellen Akteur_innen liegt.) Und während Bildungshäuser medial in der mittleren Kreidezeit stehen und es bestenfalls langsames und stark gefiltertes WLAN und eventuell einen Beamer zum Ausleihen gibt, bewegen sich Jugendliche weg vom stationären Rechner und Laptop hin zu mobilen Geräten und sehen Jugendburgen im Spessart ohne Netzabdeckung nicht als wildromantisch, sondern als defekt an.
Jugendverbände haben den Anspruch, – im Unterschied etwa zu oft paternalistischer Bewahrpädagogik verpflichteter Kinder- und Jugendschutzorganisationen – die Interessen von Kindern und Jugendlichen im politischen Diskurs zu vertreten. Damit ist Netzpolitik ein Politikfeld, dass es unbedingt abzudecken gilt, ist die Frage nach dem ordnungspolitischen Rahmen für das Netz und die mediale Öffentlichkeit doch eine, die Kinder und Jugendliche, ihre Vergesellschaftungspraktiken und ihr Sozialleben maßgeblich beeinflussen. Das sieht bei erwachsenen Akteur_innen der Politik ganz anders aus: Deren Lebensvollzüge sind nicht so direkt und existentiell mit dem Netz verbunden. In dieser Vertretungsarbeit sollte – gerade angesichts der skizzierten Fremdheit selbst für die Jugendverbands-Funtionär_innen – ein besonderes Augenmerk auf das Mediennutzungsverhalten, die Interessen und Wünsche von Kindern und Jugendlichen gelegt werden, ohne sofort Maßstäbe an Kinder und Jugendliche heranzutragen, die allein von eigenen Wertvorstellungen ohne ein Verständnis für die andere Haltung jüngerer Menschen getragen sind. Ein typisches Beispiel ist die Frage nach dem Umgang mit der Öffentlichkeit und mit Datenschutz, die je nach Alter und Sozialisation sehr unterschiedlich beantwortet wird: Wenn Kinder und Jugendliche etwa scheinbar keinen Wert auf Datenschutz legen, sollte zunächst verstanden werden, warum sie so agieren, wie sie es tun und wie sie mit Privatsphäre und Öffentlichkeit umgehen, anstatt ihnen pauschal fehlende Medienkompetenz nachzusagen.
Vor diesem Hintergrund sehe ich vier netzpolitische Themenkomplexe, die für Jugendverbände eine stärkere Rolle spielen sollten und in denen sich Jugendverbände als kompetente Akteur_innen platzieren sollten: Urheberrecht, Jugendschutz, »Medienkompetenz« und Teilhabegerechtigkeit.
Urheberrecht
Urheberrecht ist ein Thema, das bisher kaum von den Jugendverbänden bearbeitet wird, obwohl es für Kinder und Jugendliche (wenn auch nicht notwendig bewusst) sehr wichtig ist. Mit dem Netz werden völlig selbstverständliche Formen der Kreativität kriminalisiert durch die hinzugekommene Öffentlichkeit: Zu jedem 50. Geburtstag, zu jeder Hochzeit gehören mehr oder weniger kreativ umgedichtete Lieder – auf YouTube gestellt, wird daraus eine Urheberrechtsverletzung. Bereits unterhalb originär kreativer Betätigung – wie bei Remixen und Mashups – ist die Rechtsunsicherheit auch bei alltäglichen Social-Media-Aktivitäten groß: Zitate in Text und Bild, Anspielungen und Verweise sind in einer urheberrechtlichen Grauzone, es fehlt an einer rechtlichen Absicherung und Ermöglichung alltäglicher Kreativität und Kommunikation. (Streng genommen ist bereits das Teilen von Links auf Facebook durch Text-Schnipsel und Vorschaubildern bestenfalls in einer legalen Grauzone.) Das Urheberrecht ist von einem Nischenfach, das im wesentlichen nur im geschäftlichen Umgang relevant war, zu einem alltäglichen und so gut wie alle betreffenden Rechtsgebiet geworden. Auch Kinder und Jugendliche engagieren sich im Bereich Urheberrecht politisch: Die Demonstrationen gegen das ACTA-Abkommen, das international eine deutliche Verschärfung des Urheberrecht zu Ungunsten der Nutzer_innen mit sich gebracht hatte, waren wesentlich geprägt von sehr jungen Demonstrant_innen, die in erster Linie über populäre YouTube-Kanäle mobilisiert wurden. (Eine Mobilisierung, die die etablierten Netz-Aktivist_innen nicht schaffen.) Einen politischen Ansprechpartner haben diese jungen Menschen wenn dann in den Jugendorganisationen mancher politischer Parteien sowie in den netzpolitischen Lobbyorganisationen; einen zivilgesellschaftlichen Akteur, der explizit die Interessen von jungen Menschen im Blick hat, gibt es dafür bisher nicht: Es fehlt eine Stimme in der Politik, die das Mediennutzungsverhalten und die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in den urheberrechtlichen Fachdiskurs einbringt.
Jugendschutz
Jugendschutz ist geprägt von moralisierender Verbotspolitik und einer sehr unzureichenden Vertretung von Stimmen der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Zwar sind in den entsprechenden – völlig überalterten – Gremien meist Vertreter_innen der Jugendringe beteiligt, Jugendschutz ist aber kein beherrschendes Thema der Jugendverbände; der fachliche Diskurs findet zwischen (Partei-)Politik, Pädagogik und Medienwissenschaft statt, mehrheitlich (zumindest im politisch wirksamen Diskurs) mit einem Fokus auf Bewahren und Behüten; die Jugendverbände fehlen als eine freiheitliche Stimme. Sie sollten sich strukturell und im fachlichen Diskurs stärker im Bereich Jugend(medien)schutz engagieren, um die Stimme von Kindern und Jugendlichen zu stärken und eine Sicht einzubringen, die von Qualifizierung und Zutrauen geprägt ist anstatt von Angst und Bewahren.
Medienkompetenz
»Medienkompetenz« ist ein völlig unbestimmter Begriff. Einigkeit besteht nur dahingehend, dass Medienkompetenz dringend nötig sei und gelehrt werden müsse. Gerade aus Sicht der Verantwortlichen in der Jugendarbeit, aber auch in Politik und Pädagogik, werden unter diesem Begriff Vorschriften an Kinder und Jugendliche herangetragen, die leider oft Kenntnis vermissen lassen über das tatsächlich Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen, ihrem Verständnis von Privatsphäre und ihren Praktiken, wie sie agieren und sich schützen. Für Jugendverbände wäre es daher angebracht, sich zunächst Kompetenz über das Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen anzueignen und zu verstehen, was und warum sie so im Netz agieren, wie sie das tun. In einem zweiten Schritt kann dieses Verhalten dann durchaus reflektiert und kritisiert werden, allerdings auch hier unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Anwaltliches Handeln heißt hier, zu verstehen, was Kinder und Jugendliche im Netz und am Computer tun, und nicht, ihnen unpassende Maßstäbe und Verhaltensanweisungen unreflektiert vorzuschreiben. Gerade im Umgang mit der jeweils aktuellen Technik, dem jeweils neuen Gadget, der jeweils angesagten Social-Media-Plattform sind Kinder und Jugendliche die Expert_innen, von denen oft ihre Leiter_innen und vor allem die Leitungsverantwortlichen auf höheren Ebenen lernen können.
Teilhabegerechtigkeit
Teilhabegerechtigkeit ist ein Thema, das in den Jugendverbänden bereits gut etabliert ist. Heute muss aber immer auch die Frage nach der Teilhabegerechtigkeit im und am Netz mitgedacht werden. Hierzu gehören natürlich auch die klassischen netzpolitischen Themen Netzneutralität und Breitbandausbau – Kinder und Jugendliche sind durch ihre mediale Sozialisation besonders auf eine funktionierende und diskriminierungsfreie Netz-Infrastruktur angewiesen; die besondere Kompetenz und das besondere Augenmerk der Jugendverbände sollte aber auch hier im Bereich der Lebenswelt von jungen Menschen liegen: Wie betrifft eine Sozialpolitik, die noch von Zeitung und Fernsehen als wichtigsten Teilhabemedien ausgeht, junge Menschen, deren gesellschaftliche Teilhabe primär über das Netz und zunehmend mobil stattfindet? Wie schaffen Kinder und Jugendliche aus sozial schwächerem Umfeld den Anschluß in der Schule und im Sozialleben? Wie sind Schulen ausgestattet – mit Hardware, und noch wichtiger: mit Kompetenzen – technischen wie jugendsoziologischen – bei den Lehrkräften?
Ausblick
Mit diesen vier Themenfeldern ist skizziert, wo sich Jugendverbände engagieren können. Es sollte deutlich geworden sein, dass Netzpolitik weder eine Modeerscheinung noch ein randständiges und für die Jugendpolitik irrelevantes Politikfeld ist. Jugendverbände sollten sich systematisch Kompetenzen aneignen: Im Dialog mit ihren Mitgliedern und in der Überprüfung ihrer Strukturen und Schulungskonzepten, und sie werden nicht umhin kommen, auch Ressourcen für eine kompetente netzpolitische Vertretungsarbeit zu schaffen. Ein erster Schritt wären klare Verortungen in den politisch-inhaltlichen Referaten und in den Vorständen.
Netzpolitik aus kinder- und jugendpolitischer Perspektive ist die Gestaltung eines Lebensraums, der für junge Menschen eine zentrale Bedeutung hat, und der auch in Zukunft zunehmend wichtiger für die gesamte Gesellschaft wird. Für diese große politische Aufgabe braucht es die Jugendverbände.