Zwei Artikel habe ich dieser Woche gelesen, in der mir eine seltsame Umdeutung von Begriffen aufgefallen ist: Liberal und christlich – beides Labels, mit denen ich auch verbandelt bin.
Das eine ist ein Portrait Mechthild Dyckmans, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, FDP-MdB, das andere ein Artikel beim neuen katholisch-politischen Blog kreuz-und-quer.de.
Über Dyckmans heißt es in der FAZ:
Als überzeugte Liberale sind für Dyckmans Staatseingriffe immer nur Ultima Ratio, freiwillige Vereinbarungen sind ihr lieber. […]
Auf dem Rückweg zum Gesundheitsministerium lässt sie es sich dann aber nicht nehmen, den Fotografen noch über seinen Zigarettenkonsum auszufragen.
Ist das Instrument »freiwillige Vereinbarung« wirklich so liberal? Oder ist das nicht viel mehr eine Verschleierung staatlicher Machtstrukturen, in denen Großunternehmen und die Exekutive Regelungen auskungeln, die nicht durch den parlamentarischen Prozeß überprüft werden und keiner unabhängigen juristischen Prüfung unterliegen? Und warum sieht eine liberale Drogenbeauftragte es als ihre Aufgabe an, ihre eigenen Konsumpräferenzen anderen Leuten ungefragt aus ihrer Autoritätsposition heraus anzutragen, anstatt die private Konsumentscheidung besagten Kameramanns, so unvernünftig sie sie auch finden mag, auch im Privaten zu belassen?
Der erste Fall mag noch überempfindliches Kleinklein sein. Den zweiten Fall finde ich grotesk. Johann Christian Koecke, bei der Adenauer-Stiftung u.a. für politische Grundsatzfragen, interpretiert in seinem Artikel Kulturchristen statt Kirchenchristen? Umfragen zur Verankerung des Christentums in der deutschen Gesellschaft. Am Schluß betrachtet er, wie der Begriff »christlich« wahrgenommen wird im Unterschied zu klassischen konservativen Positionen:
„Christlich“ wird zum Inbegriff einer wohlmeinenden und unterstützenden Haltung gegenüber den typischen Protagonisten des progressiven Zeitgeistes: den bedrängten Minderheiten, den sozial Schwächsten, den Opfern „repressiver Systeme“. Eine Politik für den selbstverantwortlichen Mittelstand oder die Stärkung der klassischen Familie mit selbständigem Erziehungsauftrag der Eltern gerät da aus dem Blick und wird offensichtlich immer weniger mit „christlich“ assoziiert.
Wer ist das, diese »typischen Protagonisten des progressiven Zeitgeistes«? Einen kenne ich, und in seiner Verfassungsschutzakte findet sich (neben aufrührerischer Propaganda gegen die klassische Familie und kommunistischen Träumereien) diese Polemik gegen eine Politik für den Mittelstand, das Establishment und das juste milieu:
Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.
Ihr Bibelzitat führt direkt in die Frage hinein, die in meinem Blogeintrag nicht ausführlich genug behandelt werden konnte. Insofern bin ich Ihnen für das Aufstellen eines Trampolins dankbar. Welche Form von Solidarität beschreibt Jesus denn hier und im Gleichnis vom barmherzigen Samariter? Doch eine tätige Hilfe aus eigenem, vom Liebe zum Nächsten motivierten Antrieb. In der klassischen christlichen Soziallehre steht diese Solidarität in logischer Verbindung zur Subsidiarität, der freien Selbstverantwortung. Ein wesentliches Element der Begrifsverschiebung von dem, was heute “christlich” genannt zu werden scheint, ist, dass mit ihm immer gleich der Ruf nach dem alles regelnden Staat erfolgt. Wenn eine Verschiebung von “christlich” (wie sie Allensbach beobachtet) stattfindet, dann nicht wegen der Zielgruppen der (solidarischen) Politik, sondern in der Art, wie die Politik diese Solidarität organisieren soll: im direkten staatlichen Durchgriff, vertikal-sozialstaatlich. In einem klassischeren Verständnis von “christlich” gehörte es eben auch dazu, Solidarität horizontal zu ermöglichen. Da war dann auch der von ihnen ironisierte Mittelstand gefragt. Dass Christus kein Freund der Superreichen war, steht wohl außer Frage, ich wehre mich aber dagegen, ihn deswegen zum Funktionär eines egalitären Beglückungsstaates zu machen. Denn Motiv für die Hilfe soll in der Bibel die Liebe sein, nicht das Sozialgesetzbuch.