Kommt es nur mir so vor, oder verludern in letzter Zeit die politischen Sitten immer mehr?
- Wer im Fall Zumwinkel die Presse informiert hat, ist meines Wissens immer noch ungeklärt. Im Fall Tauss betreibt die Staatsanwaltschaft ganz offen ihre Medienpolitik; die Bild-Zeitung wird vor dem Verdächtigen informiert. Immerhin: der ermittelnde Staatsanwalt wurde ein bißchen gerügt.
- Der Gesetzgebungsprozeß in Sachen #zensursula: Zwischen den Lesungen wird das Gesetz ausgetauscht, und damit es überhaupt als Bundesgesetz durchgeht, wird es dem Ressort Wirtschaft zugeschlagen (beides sprach Max Stadler (FDP) in der Bundestagsdebatte deutlich an), schließlich das EU-Notifizierungsverfahren vergessen (und dann das falsche Gesetz eingereicht).
- Die PARTEI und die Freie Union wurden vom Bundeswahlausschuß nicht zur Bundestagswahl zugelassen, die berechtigten Einsprüche der Parteien ignoriert.
- Die Mentalität auf den Punkt bringt Thomas Jurk (SPD): »Wenn wir gegen das Grundgesetz verstossen, weil wir Pädophilen unmöglich machen kinderpornografische Bilder aus dem Internet herunterzuladen, dann nehme ich das in Kauf.«
All das sind Beispiele für aktuelles politisches Geschehen, das sich nicht um korrekte Verfahren bemüht. Und das zu einer Zeit, in der das Märchen vom rechtsfreien Raum Internet fröhliche Urständ feiert. Während im Internet angeblich zu wenig Recht und Ordnung herrscht, scheren die, die das beklagen, sich selbst wenig darum.
Aber es ist doch gut gemeint! Eben. Rechtsstaatliche Verfahren sind gerade dazu da, Menschen vor denen zu schützen, die es gut meinen. Vor der Stimme des Volkes, vor einfachen Lösungen, vor Populisten. Vor allem: Vor Selbstverständlichkeit, Comme il faut und vermeintlicher Natur und Wahrheit.
Politik besteht gerade darin und hat dort ihre Anwendung, wo es um die Entscheidung von Alternativen geht, die nicht als eindeutig wahr und falsch ausgewiesen werden können. Daher braucht, was politisch und rechtlich entschieden wird, die Legitimation des korrekt angewandten Verfahrens. Auf eine Gerechtigkeit eines Ergebnisses zu verweisen, das im Zuge eines auch bloß formal falschen Verfahrensweges erreicht würde, öffnet der Willkür Tür und Tor. Ex falso quodlibet. Es macht gerade die Rechtsstaatlichkeit des Rechtsstaates aus, daß zunächst Verfahren vereinbart werden, die dann transparent zu Ergebnissen führen; auch wenn diese Ergebnisse einem dann nicht passen.
Noch ein wenig Namedropping zum Schluß: Nach John Rawls ist Gerechtigkeit Verfahrens- und nicht Ergebnisgerechtigkeit, und wo nach Niklas Luhmann kein naturwissenschaftlicher Geltungsanspruch herrscht, da muß die Legitimation aus dem Verfahren kommen – ganz anders St. Just in Büchners »Dantons Tod«, für den die moralische Natur der physischen folgen muß. Das ist Hannah Arendts Ideologiebegriff auf den Punkt gebracht: Messerscharf eins auf andere folgern, den kontingenten Charakter von Politik ignorierend. Verheerend, wenn all das unter Habermas‘ Kolonialisierung der Lebenswelt geschieht; wenn erst alle Beziehungen verrechtlicht werden und dann die rechtlichen Prozeduren nicht eingehalten werden.