Auf Formspring.me wurde ich gefragt, warum ich in alter Rechtschreibung schreibe. Da das etwas länger ist, landet die Antwort hier im Blog.
Ich schreibe nicht nach alter Rechtschreibung, jedenfalls nicht in strenger Obödianz des Altschreib-Dudens letzter Hand (das ist die 20. Auflage von 1991 – habe ich schon mal erwähnt, daß ich Rechtschreibduden sammle?). Wenn ich vorgebe, nach Regelwerk zu schreiben, dann verweise ich auf den Ickler – Normale deutsche Rechtschreibung. (Und damit meine Rechtschreibung nicht deformiert wird, wende ich, wo neue verlangt wird, einfach die neue ß-Regelung an. Merkt niemand.)
Dahinter stecken zwei Gründe: Es ist mir zuwider, wenn staatliche Macht in die gesellschaftliche Sphäre übergriffig wird. Es ist schlicht nicht in der Kompetenz des Staats, die Rechtschreibung zu regeln. Und ich halte eine nach gewachsenen ästhetischen Regeln normierte Sprache (bzw. ihre Verschriftlichung) für der Sprache angemessener als eine am Reißbrett erfundene Planorthographie.
Was ich mache, ist im wesentlichen zweierlei: schreibend nicht den Gesslerhut der heyseschen s-Schreibung zu grüßen und stattdessen die hergebrachte adelungsche zu verwenden, und als Regel für Getrennt- und Zusammenschreibung Betonung und Sinnzusammenhang, nicht irgendeine abstrakte, starre Regel zu verwenden. Dazu kommen noch ein paar kecke Arabesken (»in bezug auf« kleinschreiben; wie denn nun nach alter Rechtschreibung fahrrad- und autofahren unterschieden wurden, wußte ich dagegen noch nie).
Daß die alte Rechtschreibung in der Formulierung des Dudens (der damals noch staatlich sanktioniert »maßgeblich in allen Zweifelsfällen« war) alles andere als perfekt war, daß die Duden-Redaktion manchmal seltsam präskriptive Anwandlungen hatte: Geschenkt. Da wurde über Auflagen hinweg versucht, künstliche Schreibungen wie »Kautsch« durchzudrücken, an niemandem vermittelbaren Regeln wie eben der von der Unterscheidung von Fahrrad- und Radfahren wurde festgehalten.
Dennoch war die Rechtschreibung eigentlich in ganz gutem Zustand, und man hätte auch weiterin behutsam deskriptiv arbeiten können (also die real geschriebene Sprache abbilden) mit nur wenigen Wertentscheidungen, die einen Ordnungsrahmen vorgeben. (Damit »Mandy’s Imbiss Stube« auch weiterhin als falsch angesehen wird; die neue Rechtschreibung nimmt dazu übrigens Stellung: »Carlo’s Taverne« sei erlaubt, um eine Unterscheidung von »Carlos‘ Taverne« zu ermöglichen – was natürlich in scheinbare Ordnung verpackter Bullshit ist.)
Dann wurde aber entschieden, daß man eine einfachere Rechtschreibung brauchen würde. Tatsächlich hat die Rechtschreibreform nicht eine einfachere Rechtschreibung geschaffen (stellenweise sogar deutlich komplizierter, mußte man doch, um eine korrekt Getrennt- und Zusammenschreibung anzuwenden, eine umfangreiche Partikelliste auswendiglernen!), sondern nur eine andere.
Die Hauptregelung, die Umstellung auf die heysesche s-Schreibung, das eigentliche Schibboleth der neuen Rechtschreibung, ist exakt gleich schwer: Vorher gab es eine ästhetische Regel (»ß« nach Diphtongen, langen Vokalen und Wortfugen), danach eine phonetische: (»ß« nach langen Vokalen und Diphtongen). Das läßt die Schwierigkeiten bestehen (»Bus oder Buss« ist jetzt die Frage statt »Bus oder Buß«) und macht regionale Probleme (in Wien sagt man aber »Geschoß« mit langem o, im oberdeutschen Sprachraum sagt man »Spass« mit kurzem a). Die Geschichte (nämlich eine Regel, die zum ästhetischen Setzen von Fraktur benötigt wurde), wird ohne Not über Bord geworfen.
Obwohl eine Vereinfachung der Schreibung für die Schule vorgeschützt wurde, ging es tatsächlich darum, sich politische Kompetenz über die Schrift anzumaßen. (Das war auch schon ausführlich Thema in der Urzeit meines Blogs, hier ein Artikel von 2004, der viele Kritikpunkte benennt.) Das muß schiefgehen, ist aber eine übliche politische Übergriffigkeit. »Anmaßung von Wissen«, »Hybris der Planbarkeit« sind allzu oft austauschbare Begriffe für »Politik«. Schrift halte ich für einen Paradefall der Theorie der kulturellen Evolution und der spontanen Ordnung Friedrich August von Hayeks:
The structures formed by traditional human practices are the result of a process of winnowing or sifting, directed by the differential advantages gained by groups from practices adopted for some unknown and perhaps purely accidental reasons.
(F.A. von Hayek, Law, Legislation and Liberty, Vol. III, London 1979, S. 155.)
Schrift und Sprache werden nicht geplant hergestellt, sie werden gesprochen und geschrieben. Sprache ist das Ergebnis von Handeln, nicht von Design. Ich halte es nicht für möglich, eine Sprache völlig in Regeln zu fassen, nicht einmal ein Momentzustand. Selbst die Verschriftlichung ist immer noch zu komplex, als daß alle Fälle abgedeckt werden könnten – selbst in der Theorie: Sprache als Mittel der Kommunikation entwickelt sich im Gebrauch beständig weiter. Die Rechtschreibreform möchte aber die Illusion der Planbarkeit erzeugen und erkauft das unter anderem damit, daß sie ästhetische Regeln abschafft und die Sprache sich so geschrieben technischer anfühlt. Rechtschreibung funktioniert ganz gut ohne zentrale Regelung (die verschiedenen englischen Rechtschreibungen zeigen das).
Sehr ähnliche Gründe nennt Augušt Maria Neander in Lichtwolf Nr. 17 (S. 4–6) (leider nicht online und vergriffen) radikalisiert in seinem unnachahmlichen Stil in seinem Essay »Das Elend des Szientismus«:
Laß ersterben die Ästhetik,
Laß erblühn die Arithmetik!
Schüler, auf! zum Heiligtume
Der addierten Bröselkrume
Walle feierlichen Schritts!Friedrich Theodor Vischer, »Faust, der Tragödie dritter Theil«
[…]
Der Schreibende wird paternalistisch sowohl seiner Verantwortung für das Geschriebene und den Leser als auch seiner gewachsenen Geschichte enthoben, indem die gewachsene Orthographie als diskriminierend und elitistisch identfiziert wird und mit Mitteln der scheinbar modernen Sprachwissenschaft ihrer Kanten (doch damit auch ihres Profiles) entledigt wird.[…]
Als vermeintlicher Status quo wird festgestellt, was festgestellt werden soll (die Rechtschreibung ist zu kompliziert, und nicht: wir haben ein Bildungsproblem), um daraus die Notwendigkeit einer Verwissenschaftlichung künstlich zu schaffen. Weiche Kriterien wie die Ästhetik werden zugunsten scheinbar härterer Kriterien geopfert (Paradebeispiel ist die Verwendung des »ß«, das früher nach ästhetischen Kriterien, jetzt nach technischen gesetzt werden soll), um das Ideal einer »logischen« Sprache zu schaffen, da der Kurz-Schluß von Wissenschaftlichkeit auf Qualität gezogen wird.
Sprache ist praktisch, nicht logisch. Wenn Sprache – selbst über den Umweg ihrer Verschriftlichung – zur gesellschaftlichen Steuerung verändert wird, mithin Kultur als sinnreicher Selbstzweck dem Konstruierten als missionarische Verzweckung untergeordnet wird, ist dies der erste Schritt zum totalitären Tugendterror.
Wenn ich also möglichst nach einer gewachsenen Rechtschreibung schreibe, dann ist jedes »ß« ein Protest gegen die Hybris staatlicher Allzuständigkeit und politischer Planung.
In der Sache liegen Sie wie so oft völlig richtig.
Aber die neuen phonetischen Regeln als gutes schlechtes Beispiel für die Ideen der KMK anzuführen, ist ein Schwachpunkt. Insbesondere weil der „Bus“ als Fremdwort – ebenso wie Artikel und Pronomen mit s nach kurzem Selbstlaut – zu den gelehrten Ausnahmen der alten und neuen Regeln gehört. Letzterer Charme besteht darin, bloß die beiden Regeln für s-Laute nach Selbstlauten (lang – ß, kurz – ss) vorzugeben, auf Ausnahmen mit einfachem s hinzuweisen und darauf, dass sie durch Verlängerungsformen phonetisch erkennbar sind (Spaß/Späße, Gras/Gräser); anstatt auswendig lernen zu müssen, welche Wörter mit s, ss oder ß geschrieben werden.
Überdies sind bei der Zusammen- / Getrenntschreibung gar keine starren Regeln vorgegeben worden, im Gegenteil: Hier hat Vater Staat das „anything goes“ verordnet und Onkel Duden muss nun Entscheidungshilfen geben.
Dies alles nur als Hinweis auf eine kleine Öffnung in der Flanke Ihres sympathischen Unternehmens, nicht bloß im Medium, sondern gar in der Morphologie noch Message unterzubringen!
Im Übrigen regt die Prominenz des Bindestrichs in der neuen Rechtschreibung zum Misstrauen an, ob nicht ein paar Heideggerianer zu viel unter den zuständigen Kommissaren waren.
Ich bleibe dabei: Es wurde versucht, die Schrift näher an eine Wiedergabe der Phonetik zu bringen. Die alte Regel ist nicht komplizierter als die neue, gerade weil es weiterhin gelehrte Ausnahmen gibt. Daran zeigt sich dann, daß es vergebliche Liebesmüh ist, eine logische oder wenigstens konsequente Rechtschreibung anzustreben. Sind auch die Wörter auf -nis gelehrte Ausnahmen? Oder sind das gewachsene Artefakte, deren Kürze man um des vertrauten Schriftbildes willen nicht konsequent einheitlich markieren wollte? (Und warum hat man sich bei Wörtern auf -p – »Tip« vs. »Tipp« – entschieden, das anders zu regeln? Ein kraftvoll-lutherisches »Bekenntniss« hätte mir gut gefallen!) Ich bestreite nicht, daß auch die heysesche s-Schreibung Vorteile hat – nur eben keine, die die adelungsche übertreffen würden. Dieser Reformteil wurde nur aus Geringschätzung der Tradition, aus purer Lust an Veränderung um der Veränderung willen eingeführt. Gleicher Nutzen plus Transaktionskosten für die Umstellung und Umgewöhnung ergeben einen negativen Saldo.
Zur Getrennt- und Zusammenschreibung ist zu sagen, daß hier die Reformer am deutlichsten von der normativen Kraft des Faktischen widerlegt wurden. In der ersten Fassung der neuen amtlichen Regeln von 1996 gab es noch sehr deutliche Veränderungen; insbesondere wurde ja der gewachsene Trend zur Zusammenschreibung aufgebrochen und im Zweifel getrennt geschrieben. Beredtes Zeichen ist die auswendigzulernende und im Artikel auch erwähnte Partikelliste. (Daran zeigt sich auch deutlich, daß der systematische Anspruch nicht zu erfüllen war und jede Systematisierung doch nur in Kasuistik verharren muß.) Die mittlerweile geltenden amtlichen Regeln stellen in der Tat eine deutliche Verbesserung gegenüber denen von 1996 dar. Die wesentliche Verbesserung gegenüber der alten Regelung ist hier aber auch nicht zu sehen.
Die aktuell gültige Regelung mag tragfähig, sinnvoll und wieder am tatsächlichen Schriftgebrauch angelehnt sein, es bleibt nur die heysesche s-Regelung als Leitfossil, um alt und neu zu unterscheiden. Was aber gut ist an der geltenden Regelung, ist nicht was künstlich geregelt wurde, sondern was an den gewachsenen Schriftgebrauch anknüpft.
Eloquent, und gut gesprochen.
Aber das gleiche gilt für den vorherigen Rechtschreibzustand: er war Produkt einer „Reform“ und von oben herab beschlossene Sache.
Mir persönlich ist es Wurscht. Es dürfte reine Gewohnheit werden, die neue Rechtschreibung zu übernehmen. Die neue Regel mit „ss“ genieße ich regelrecht: ich brauche weniger nachzudenken und lebe mithin risikofreier.
In der Tat gab es schon vorher verbindliche Entscheidungen über die Rechtschreibung; die beiden orthographischen Konferenzen von 1876 und 1901 waren ja auch staatlich sanktionierte Veranstaltungen. Diese Konferenzen hatten aber weniger das Ziel einer rationalisierten Planschreibung als das einer Vereinheitlichung der Orthographie, wobei die II. orthographische Konferenz eine Vielzahl von Alternativen zuließ. Insofern wurde das Problem erkannt, daß Eingriffe in die Rechtschreibung per staatlichem Erlaß nicht übermäßig gut funktionieren (der Bundesrat erließ dennoch 1902 ein Regel- und Wörterverzeichnis). Schon damals zeigte sich aber, daß eine staatlich verodnete Rechtschreibung nicht das ist, was die Orthographie eigentlich prägt. Die wirklich nachhaltige »Reform« war Konrad Dudens Entscheidung von 1915, den Buchdruckerduden (in dem er deskriptiv und pragmatisch sich als sinnvoll erwiesen habende Schreibweisen für Buchdrucker empfahl) in den normalen Duden zu integrieren. Erst diese pragmatische Entscheidung für eine organisch gewachsene deskriptive Orthographie hat die Rechtschreibung vor der Reform von 1996 ausgemacht.
Daher sehe ich schon einen qualitativen Unterschied zwischen den beiden Rechtschreibungen.