Für die aktuelle Ausgabe der Salzkörner – Materialien für die Diskussion in Kirche und Gesellschaft habe ich einen Artikel zum Thema Netzneutralität geschrieben (der Titel ist nicht von mir). Der Zielgruppe geschuldet, deren fachlichen Schwerpunkte eher nicht im Bereich Netzpolitik liegen, ist er sehr grundsätzlich geworden. Die Schwerpunkte liegen wieder auf den Aspekten Ordnungspolitik und Teilhabegerechtigkeit – zwei Ansätze, mit denen man über die enge netzpolitisch ohnehin schon interessierte Klientel Gehör finden kann.
Ein vordergründig sehr technischer Fachbegriff bezeichnet eines der wichtigen Themen der netzpolitischen Debatte: Netzneutralität. Die Frage nach der Netzneutralität ist vordergründig die rein technische Frage (und eine komplizierte dazu), wie und mit welcher Priorität Daten durch das Netz transportiert werden sollen. Im Kern geht es aber um die politische Frage, welche Regulierung für die privat betriebene, aber öffentlich bedeutsame und unersetzliche Infrastruktur des Internets nötig ist.
In den letzten 20 Jahren hat sich das Internet von einer nur technisch Versierten überhaupt bekannten Technik zu dieser unersetzlichen Infrastruktur entwickelt. Selbst wer glaubt, das Netz nicht oder nur wenig zu nutzen, ist doch zumindest mittelbar darauf angewiesen. In kaum eine Branche ist heute ein Verzicht auf netzbasierten Datenaustausch denkbar, und immer weitere Bereiche werden von der Vernetzung erfasst und umgestaltet. Fehlender Zugang zum Netz (technisch wie von den Fertigkeiten her) erzeugt gewichtige soziale und ökonomische Ausschlüsse.
Ohne Torwächter
Ein zentrales Merkmal des Internets, das auch zu seiner so umfassenden Verbreitung beigetragen hat, ist die Offenheit. Das Internet basiert auf offenen, das heißt öffentlich nachvollziehbaren und ohne Lizenzgebühren verwendbaren Standards. Der Datenaustausch findet grundsätzlich zwischen gleichberechtigten Rechnern statt, die Daten über mehrere Knotenpunkte austauschen, und zwar, das bedeutet Netzneutralität grundsätzlich, ohne Ansehen des Inhalts, der Herkunft und des Ziels der Datenpakete. Alle Datenpakete werden gleich behandelt, ohne dass eines dem anderen vorgezogen wird. Das ermöglicht erst die ungeheure Dynamik des Netzes: Es gibt keine natürliche Zentrale des Netzes, keine Gatekeeper, Torwächter, die über den Zugang entscheiden, und mit wenig Aufwand ist der Marktzugang für neue Dienste möglich – das Internet ist gerade deshalb so dynamisch und so ein mächtiges Werkzeug, weil es unspezifisch und allgemein Daten effizient überträgt und es der Kreativität seiner Nutzerinnen und Nutzer überlässt, welche spezifischen Dienste damit realisiert werden.
Bedrohung
Diese Offenheit wird bedroht durch Bestrebungen, vom Grundsatz der Netzneutralität abzuweichen; Netzanbieter haben dafür große Anreize: Anstelle einer diskriminierungsfreien Durchleitung aller Daten sind Modelle attraktiv, selbst zum Inhalteanbieter zu werden (und dafür die Konkurrenz abzubremsen oder nicht durchzuleiten), Konkurrenz zu eigenen Diensten zu verbieten (was bereits jetzt im Mobilfunkbereich üblich ist, wo SMS-Konkurrenz wie Chats und Instant Messaging meist durch die Geschäftsbedingungen ausgeschlossen werden) oder die priorisierte Behandlung anderer Anbieter auf Kosten deren Konkurrenz.
Ordnungspolitischer Rahmen
Die Frage nach dem ordnungspolitischen Rahmen für die Netzwerkinfrastruktur ist nicht einfach. Die Netze werden betrieben und unterhalten von privaten Unternehmen, die auf eigenes Risiko arbeiten und im Wettbewerb mit anderen Netzbetreibern stehen; verschiedene Netzarten (ans Telefon- oder Kabelnetz gebunden, über Satellit oder Mobilfunk) stehen nebeneinander. Aus dieser Perspektive also eigentlich gute Voraussetzungen für einen funktionierenden Markt. Die Entstehung der großen Netzbetreiber aus der Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe und ihrer Infrastruktur (die Telefonnetze von Post und Bahn, die Stromnetze) sowie die naheliegenden Netzwerkeffekte möglichst großer und umfassender Netze haben ein Oligopol entstehen lassen, das von der zuständigen Bundesnetzagentur nur schwierig reguliert werden kann. Mangelnde Netzneutralität fördert diese Oligopole noch: Große Anbieter schaffen sich ein für sie günstiges Umfeld, das den Marktzugang potentieller Konkurrenz erschwert. Vom Wegfall der Netzneutralität würden am meisten die Unternehmen profitieren, die schon jetzt wegen ihrer Marktmacht kritisiert werden und deren Regulierung immer wieder gefordert wird. Große Plattformen wie Facebook und Google haben die Ressourcen bis hin zu eigener Netzinfrastruktur bereits, um sich in Netze einzukaufen oder sie selbst zu betreiben. Kartellrecht im Bereich der Informationstechnik ist notorisch schwach und langsam; während das kartellrechtliche Vorgehen der Europäischen Union gegen Microsoft sich über Jahre hingezogen hat und trotz juristischem Erfolg keine praktischen Auswirkungen hatte, wurde der vormalige Monopolist Microsoft durch den intensiven Wettbewerb seiner marktbeherrschenden Stellung enthoben. Hätte Microsoft die Infrastruktur des Netzes kontrolliert, wäre der Markteintritt der Konkurrenten kaum so erfolgreich gewesen. Ähnliches gilt für andere früher dominierende Unternehmen; Google wurde groß, obwohl der Suchmaschinenmarkt eigentlich als aufgeteilt galt. Facebook war bei weitem nicht das erste Social Network. Netzneutralität ist der ordnungspolitische Rahmen, der sicherstellt, dass Innovation und Wettbewerb diesen Markt regeln, während der Versuch einer kartellrechtlichen Ordnung mit der Geschwindigkeit, Dynamik und Komplexität auf einem Markt, der sich gerade durch die Ortlosigkeit und die Abschaffung physischer Distanzen auszeichnet, nicht mithalten kann.
Oligopolistische Marktmacht eindämmen
Eine ordnungspolitisch verantwortliche Regulierung muss im wesentlichen die wettbewerblichen Aspekte der Netzneutralität berücksichtigen, das heißt die Ausnutzung der oligopolistischen Marktmacht der Netzbetreiber so eindämmen, dass sie keine künstlichen Marktzugangshürden für neue Anbieter sowohl auf Netz- wie auf Dienst- und Inhaltsebene errichten. Dazu kann es auch sinnvoll sein, neben einer Verpflichtung auf transparente, wahrheitsgemäße und vollständige Leistungsbeschreibung bei Netzzugängen (etwa zu tatsächlich erreichbaren Geschwindigkeiten) eine klare politische Definition von »echtem« Netz festzulegen, analog etwa dem Schutz der Bezeichnung »Bio« bei Lebensmitteln. Nur tatsächlich netzneu-trale Dienste sollen als »Internet« oder »Netz« ausgelobt werden dürfen, und der Begriff »Flatrate« nur für Pakete benutzt werden, die zu einem monatlichen Festpreis eine gleichbleibende Leistung echten Netzzugangs bieten. Der Jurist Tim Wu, der den Begriff Netzneutralität geprägt hat, fasst diese Forderungen pointiert zusammen: »[W]hat must be banned are blocking, gratuitous discrimination, and choosing favorites. While it‘s one way to earn cash, it‘s just too close to the Tony Soprano vision of networking: Use your position to make threats and extract payments.«
Als Universaldienst einstufen
Die rein ordnungspolitische Regulierung reicht aber nicht aus. Sie stellt nur sicher, dass überhaupt das Netz als Infrastruktur zur Verfügung steht. Sie stellt noch nicht sicher, dass auch ärmere Menschen an dieser Infrastruktur teilhaben können. Ein Mehrklassennetz, das bestimmte Dienste nur gegen Aufpreis zulässt, Datenmengenbegrenzungen (die gerade Familien mit Kindern besonders treffen), der mangelnde Zugang zu Breitbandanschlüssen verstärken die »digitale Kluft«, so der Redakteur der Fachzeitschrift c’t Jürgen Kuri, »zwischen denen, für die das Internet eine ständig verfügbare Ressource ist, und denen, die zu Online-Habenichtsen werden. […] was die Möglichkeiten im Alltagsleben […] stark einschränkt – ökonomisch (Online-Einkauf, Preisvergleiche), politisch (Information und Debatte über aktuelle Themen), sozial (Kontakte auch mit entfernten Freunden pflegen), gesellschaftlich (Wissen und Information sind plötzlich nicht mehr nahezu unbegrenzt verfügbar).« Internetzugang über netzneutrale Breitbandanschlüsse sollte – wie Wasser, Strom, Telefon – als Universaldienst eingestuft werden, der zu angemessenen Preisen überall verfügbar sein muss (regulatorisch etwa über Kontraktionszwänge zu erreichen) und auch eine angemessene Berücksichtigung im Regelsatz des ALG II finden. Die scheinbar so technische Frage nach der Netzneu-tralität ist, soviel zeigt bereits dieser kurze Abriss einer tatsächlich weit differenzierteren Debatte (einen guten Überblick mit weiterführender Literatur bietet Tim Wu), eine relevante politische Frage – nicht nur für Fachleute: Es geht um den gerechten Zugang zu einer zentralen Infrastruktur – frei von Diskriminierung und Ausschlüssen.
Den Beitrag finde ich sehr gut und informativ. Man sollte aber vor allem auch auf die Bezahlbarkeit in den strukturärmeren Regionen (Landgebiete) achten. Bei mir auf dem Dorf liegt nur für die Hälfte der Haushalte DSL an von 2000 kbit/s abwärts. Man hat uns eine Richtfunklösung vorgeschlagen, die wir aber abgelehnt haben. Ersten können nicht alle Haushalte damit erreicht werden (Sichtverbindung). Zweitens ist diese Art des Internetzugangs bis zu 100% teurer als ein netzgebundener Zugang der Telekom.