Der bis dato jüngste Kommentar zu Tocotronics »Pure Vernunft darf niemals siegen« auf Youtube, geschrieben von DominikDrinkhahn, lautet lapidar »Das Lied zur Schwarz-Gelben Regierung!«
Solch kryptisch-kurzen Urteile verstehe ich selten. Was will der Autor uns damit sagen? Versuch einer Deutung.
Das Kryptische der Anmerkung Drinkhahns korrespondiert mit Tocotronics auf den ersten Blick hermetischem Text. Die plakative Behauptung des Titels, pure Vernunft dürfe niemals siegen, wird im Laufe des Stückes immer mehr problematisiert, die Dialektik des affektiven Wunsches nach süßer Lüge eindringlich herauspräpariert. Die augenscheinlich naiv-romantische Wirklichkeitsflucht scheitert angesichts ihrer Konsequenz.
Jede Strophe beginnt mit den beiden Versen »Pure Vernunft darf niemals siegen/Wir brauchen dringend neue Lügen«, um dann das Thema der Strophe mit der Forsetzung in den folgenden beiden Versen zu setzen. (Formal ist das Stück insofern von klassischer Strenge und Eleganz.)
Die erste Strophe ist noch optimistisch: »Die uns durchs Universum leiten/Und uns das Fest der Welt bereiten« – der »puren Vernunft« wird das Bedürfnis nach Mystik, nach Gefühl entgegengestellt. Mystische Welterklärung ist hier Leitanker gegen die zu kalte Rationalität, deren Wahrheit nur »stumpf« scheint. (Ein interessantes Bild, ist Wahrheit und Rationalität doch sonst mit Schärfe konnotiert.)
Bereits in der zweiten Strophe kippt das süße, weltentrückte Delirium: »Die uns den Schatz des Wahnsinns zeigen/Und sich danach vor uns verbeugen« – die beiden thematischen Verse täuschen selbst; im folgenden erst wird klar, daß diese Verbeugung keine ehrenvolle Reverenz ist, sondern eine ironische, ja zynische Geste: Die Lüge umschmeichelt sirenengleich, ist aber tatsächlich hohl, ist falsch, »heimlich« »verhöhnt« sie denjenigen, den sie umgarnt. Die zweite Strophe ist – wieder in klassischer Strenge der Form – Peripetie: Bereits hier wird ein Motiv der dritten Strophe angespielt, das im Nachhinein die Interpretation des ganzen Stücks bestimmen wird: Die süße Lüge säht Zwietracht; was Hilfe wäre, wird von ihr »bekriegt«.
In der dritten Strophe wird dieser Charakter der Lüge – schmeichelnd spaltend – offenbar: »Die unsere Schönheit uns erhalten/Uns aber tief im Inneren spalten« Die Lüge ist (entgegen der in der ersten Strophe betonten geradezu existentiellen Notwendigkeit!) rein äußerlich; ihr tatsächlicher Charakter ist aber spaltend, fragmentierend. Indem der kalten und häßlichen Wirklichkeit die tröstende Schönheit entgegengestellt wird, spaltet sie: Die Lüge führt in Dunkel, sie verbiegt die Protagonisten »wie weiche Zäune«.
Das Lied endet mit einem wiederholten »Wir sind so leicht, daß wir fliegen«, unterlegt mit »lalala«. Geprüft und für zu leicht befunden? Der Tenor des Stückes jedenfalls zeigt das Problem gut auf: Mit Hegel gilt hier: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« In der Abwendung von der Vernunft ist das Täuschende der Lüge angelegt.
Wir haben nun die Grundlage für die Interpretation von Drinkhahns Apostrophierung des Liedes als »Lied zur Schwarz-Gelben Regierung« gelegt. Indes: Es bleibt dunkel. Naheliegend wäre es, alle interpretatorische Vorarbeit beiseite, daß der schwarz-gelbe Wahlsieg als eine notwendige Niederlage der Vernunft gedeutet wird – ein naheliegendes Deutemuster der sich immer an der Seite des Unterlegenen wähnenden Linken. (Wenn das auch eigentlich nicht mit linker Geschichtsphilosophie in Einklang zu bringen ist.) Man könnte deuten, daß sich in den Verhandlungen unvernünftigen Punkte durchgesetzt hätten; daß – gerade! – Posten nicht nach Vernunft, sondern Machtkalkül vergeben worden seien. Diese oberflächliche Deutung wird dem komplexen Text nicht gerecht.
Und dennoch sehe ich hier ein Grunddilemma der Politik, auch der Tagespolitik. Bereits gestern, wenn auch in völlig anderem Kontext, habe ich Gerhard Schwarz zitiert, der in der NZZ ein nachdenkliches Portrait des Liberalismus gezeichnet hat:
Doch wer ist hier eher Ideologe? Wer wirtschaftliche Gleichheit erzwingen, dem Zufall in den Arm fallen und ein Paradies auf Erden schaffen will? Oder wer den Menschen nicht das Blaue vom Himmel verspricht, sondern eine reale Welt voller Mängel?
Aus diesem Blickwinkel ist das Lied von Tocotronic als politischer Kommentar im Geiste Bastiats und Hayeks zu lesen: Die Illusion der Machbarkeit, der Planbarkeit, der Möglichkeit, ein »Paradies auf Erden« zu schaffen, ist als politisches Programm zwar in höchstem Maße attraktiv – indes aber eine so populäre wie populistische (immer wieder neue) Lüge. Was vorgibt, Gerechtigkeit zu schaffen, türmt sich auf zu Ungerechtigkeiten: Opium für das Volk.
Insofern, aus dieser Perspektive, kann das Lied dann auch als Hymne der schwarz-gelben Regierung gelesen werden, einer Regierung einer geschmeidigen, prinzipienlosen Kanzlerin, die gerade auch für ein Weiter-so steht, die nicht (nach 2005 eigentlich: nicht mehr) den Mut hat, warme, heimelige, Sicherheit versprechende Systeme von Grund auf zu hinterfragen, die in allem behauptet, »pragmatisch« und gemäßigt zu sein, daß ja nicht der Verdacht »sozialer Kälte« aufkommt. Wir sind so leicht, daß wir fliegen …
Nachtrag, 5. November 2009: Auch Björn Böhning hat »Pure Vernunft darf niemals siegen« politisch gedeutet (danke an Robin Meyer-Lucht für den Hinweis), und zwar schon am 12. Oktober in Carta unter dem Titel »Re-Politisierung des Politischen: Den Tanker SPD wieder flott machen«:
„Pure Vernunft darf niemals siegen“, textete einmal die Band Tocotronic. So ist es auch mit der SPD: Sie braucht die Kraft der politischen Erzählung statt der Langeweile der Spiegelstriche und Fußnoten.
Leider hat auch Böhning den Text nicht weitergelesen als bis zur ersten Zeile – oder braucht die SPD tatsächlich »dringend neue Lügen«? (Ein nicht allein popkulturell fixierter Sozialdemokrat hätte den Punkt gemacht mit Brecht: »Der Mensch lebt durch den Kopf/sein Kopf reicht ihm nicht aus«.)
Ein Gedanke zu „Tocotronic, schwarz-gelb“