Dieser Tage ist viel über Kontrollverlust die Rede.
Ich halte ja das Vorgehen der Beteiligten (den schwarzen Peter schiebe ich aber doch der FAZ zu) für eine Überreaktion; selbst eine betuliche hessische Online-Redaktion könnte sich auf die Tugenden des ehrlichen Kaufmanns besinnen: man vertraut auf die Integrität des Geschäftspartners, Fehler passieren eben, die klärt man, und dann hat man wieder eine Geschäftsgrundlage. Eigentlich interessant finde ich, daß sich hier ein Aspekt von Kontrollverlust ganz praktisch sehen läßt: Die öffentliche Privatheit, die das Netz ermöglicht, ist nicht kompatibel mit der hergebrachten Auffassung von Diskretion. Wir sehen die Ausläufer eines Paradigmenwechsels: Von »Die Gedanken sind frei« (»doch alles in der Still’/und wie es sich schicket.«) zur Nudistenkolonie, in der niemand nackt ist.
Ungeklärt ist, was das für gesellschaftliche wie politische Institutionen heißt.
Das alte Modell ist ein Modell privater Öffentlichkeit. Eine Trennung der verschiedenen Sphären – beruflich, privat, gesellschaftlich – ist darin prinzipiell möglich. Was am Stammtisch passiert, was auf der Uni-Party passiert, was man im Ortsverein der Partei sagt, was die Personalchefin beim Vorstellungsgespräch an Informationen hat: All das sind prinzipiell trennbare Sphären, obwohl die Informationen natürlich trotzdem von Sphäre zu Sphäre weitergegeben werden könnten. Nur sind die Transaktionskosten dafür zu hoch: Für die Bildzeitung mag es sich noch lohnen, bei den alten Kommilitonen anzurufen, um kompromittierende Bilder zu bekommen, für das Vorstellungsgespräch weniger. Was die Vorstandsmitglieder im Hinterzimmer besprechen, kommt nur als Gerücht nach draußen.
Das neue Modell ist ein Modell öffentlicher Privatheit, das gekennzeichnet ist durch die Möglichkeit einfacher Zusammenführung der verschiedenen Handlungssphären. Während im alten Modell die Sphären getrennt waren und jeweils eigenständig mit mehr oder weniger dichter Vernetzung, hat sich das Bild jetzt gewandelt: Hin zu einem einheitlich googlebaren Handlungsraum, der die einzelnen Subsphären zusammenführt. Wo es vorher noch eine aktive und aufwendige Verfolgung der Verknüpfungen brauchte, überlappen sich die Subsphären nun, zusammengeführt vom großen Vereinheitlicher Google.
Darüber wurde schon viel geschrieben; insbesondere die Frage nach Auswirkungen auf Bewerbungsgespräche ist bis aufs letzte bearbeitet.
Interessanter finde ich die Frage, was das für Repräsentation und politisches Handeln bedeutet.
Ich selbst habe mich für eine strikte Trennung dessen entschieden, was ich im Netz auf diversen Plattformen mitteile und worüber ich schreibe, und was ich tatsächlich privat halten möchte. (Unter anderem, um potentiellen Arbeitgebern zu signalisieren, daß meine Netzaktivität nicht gleichbedeutend mit einem Informationsleck ist.) Da ich mich hier im Blog aber primär über Politik auslasse, hat auch mein selbstauferlegtes strenges Informationsregime (nichts Familiäres, nichts Geschäftliches) potentiell Folgen: Indem ich mich öffentlich nachvollziehbar politisch positioniere, hat das deutlichere Auswirkungen auf potentielle Arbeitsverhältnisse als (online nicht vorhandene) unvorteilhafte Fotos von irgendwelchen Fachschaftspartys. Gerade bei Tendenzbetrieben (die für mich in besonderem Maße relevant sind qua Ausbildung und Erfahrung) ist immer die Frage zu stellen, inwiefern meine private Meinung dem Unternehmen zugerechnet wird, wie einfach sie zurechenbar ist und welches Maß an Differenz möglich ist.
In noch stärkerem Maße stellt sich diese Frage bei Ämtern. (Und damit gibt es dann schon prinzipiell drei überlappende Sphären.) In meinem Artikel über die enorme Bürde, die ein Bundespräsident als Repräsentant eines ganzen Volkes zu tragen hat »Der Bundespräsident als Paria und Tenno«, habe ich räsonniert, inwiefern man durch dieses Amt aus den Bezügen der Politik herausgenommen wird, weil man nur noch repräsentiert und nicht mehr selbst frei agieren kann. Dieses Problem ist natürlich ebenso gegeben für jedes andere repräsentierende Amt: Natürlich ist eine repräsentative Demokratie, in der Vertreter als Personen delegiert werden ohne ein imperatives Mandat, schon ein Schritt, um diese Kluft zwischen Privatmeinung und institutioneller Meinung zu überbrücken. (Loyalitätskonflikte zwischen einfachen Mitgliedern und Organisation sind da noch gar nicht angesprochen! Ich jedenfalls blogge schon fast nichts über politische Prozesse, an denen ich aktiv teilhabe.) Das Problem besteht aber auch mit freien Mandaten: Ein Amt nimmt in die Pflicht, und damit entstehen potentiell Konflikte zwischen eigener Meinung und Beschlußlage. (Gesetzt den Fall, daß ein Leitungsverständnis vorherrscht, das nicht nur Basta und Beschädigung des Vorsitzenden kennt.)
Unter den Bedingungen einer privaten Öffentlichkeit war das noch zu ertragen; die Diskussionen blieben weitgehend in den zugehörigen Sphären. Unter den Bedingungen einer öffentlichen Privatheit, wo Blogs den politischen Salon wie den Stammtisch beerben, sieht das anders aus. (Für mich jedenfalls ist das Netz im Vergleich zur »echten« Welt mindestens gleichberechtigter politischer Diskursraum.) Antje Schrupp hat über die neue Form von Öffentlichkeit das geschrieben:
Ich denke, das Internet bringt uns wieder zurück zu dem, was die alten Griechen „Polis“ nannten – also einer Gesellschaft, die davon lebt, dass alle (bei den alten Griechen waren es nur die freien Männer, aber sagen wir heut mal, wirklich alle) sich an der „öffentlichen Meinungsbildung“ beteiligen. Eine Gesellschaft, die Politik als Diskurs der Verschiedenen versteht und im Gespräch, Austausch und Konflikt unter diesen vielen versucht, eine gute Lösung herauszufinden. Mit dem Internet besteht jedenfalls erstmals möglicherweise die Chance, dies auch in einer Polis zu bewerkstelligen, die aus mehr als ein paar hundert Menschen besteht.
Politik im Polis-Sinn, wie ich sie mit Hannah Arendt verstehe – »Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen« (Was ist Politik, München/Zürich 1993, S. 9) –, Politik, wie ich sie auch (zum Beispiel indem ich über Fragen der Gesellschaft schreibe) betreibe, ist unter den Bedingungen einer öffentlichen Privatheit kaum mehr möglich, sobald man Politik im repräsentativen Sinn betreibt.
Das Netz holt die politischen Möglichkeiten der griechischen Polis, das Interagieren gleicher, wieder zurück – eine Lösung, was das für politische Institutionen heißt, sehe ich noch nicht. Wer ein Amt hat, kann nicht mehr frei das wichtigste politische Medium nutzen, das Netz als moderne Agora. Unsere Institutionen stehen vor einem Paradox: Wer im ursprünlichen Sinn politisch handelt, kann nicht mehr politisch handeln. Wer politische Fragen öffentlich abwägt, sich positioniert, sich rechtfertigt, wird Probleme mit Fraktionszwängen, mit dem Diktat der »Geschlossenheit« haben (als ob eine Partei etwa nicht intellektuell tot wäre, wenn sie »geschlossen« wäre!).
Vielleicht heißt das für politische Institutionen, daß sie im neuen Kommunikationsmodell, das eine polisartige Politik als Rahmen vorgibt, auch polisartiges politisches Handeln zum Normalfall macht. Vielleicht wäre das auch ein Ausweg aus der Parteienverdrossenheit: Wenn Parteien polishafter werden. In der Theorie ist das durchaus schon angekommen:
Dieser Befund [passive Mitglieder von Parteien denken noch schlechter über Parteien und Politik als Nicht-Mitglieder] signalisiert ausgeprägte Insider-Verdrossenheit, verursacht durch enttäuschte Erwartungen bezüglich eigener Mitwirkungschancen. Die Parteien bedauern zwar Interesselosigkeit der Bürger und fordern mehr Engagement ein. Aber politisch Interessierten haben sie, festhaltend an ihren Ritualen und Aktionsmustern, wenig zu bieten – speziell Menschen, die gemäß dem Haupttrend des Wertewandels „Subjekt des eigenen Handelns“ sein möchten, Menschen, die mitdenken, mithandeln und mitentscheiden wollen. (Heinrich Oberreuter)
Ergänzung, 26. Juni 2010: Jeff Jarvis hat über ein ganz ähnliches Thema geschrieben: »The Myth of the Opinionless Mann«:
No, the opinionless man is an institutional myth, a fiction maintained by news organizations, political organizations, governments, businesses, churches, and armies. The opinionless man is meant to be an empty vessel to do the bidding of these hierarchies. But opinions and openness about them subvert hierarchies. Or to translate that to modern times, via the Cluetrain Manifesto, links subvert hierarchies. This is the age of links. So hierarchies: beware. One opinion leaks out of the opinionless man and it is shared and linked and spread instantly. The institutions treat this revelation as a shock and scandal — as a threat — and they eject the opinionated men. That is what happened to McChrystal and Weigel.
[…]
So if we want more transparency — and I believe that we, the people, do even if they, our institutions, often do not — then we must stop going along with the myth of the opinionless man and the scandal of the opinionated man. We should celebrate openness and honesty whenever they manage to break through. We should recognize that […] transparency leads to trust. We should remind our institutions — government and the journalists who are supposed to cover them — that we expect them to judge and we will respect their actions more if we understand their judgment.
Er kommt zu einer ähnlichen Schlußfolgerung wie ich, verbindet dieses Modell der Öffentlichkeit aber nicht mit der griechischen Polis, sondern mit Habermas’ gelehrter Öffentlichkeit der Salons des 19. Jahrhunderts.