Für die Heidelberger Studierendenzeitung ruprecht wurde ich gebeten, die pro-Seite der Frage »Sind die Piraten eine dauerhaft ernstzunehmende Partei?« zu beantworten: In der Ausgabe 137 auf Seite 2 oder hier. (Wie ich dort allerdings zum Journalisten geworden bin, weiß ich nicht. Immerhin: Alles besser als Social-Media-Berater.)
»Die Piratenpartei ist in vier Landtagen vertreten, bald wohl auch im Bundestag. Da wäre es fahrlässig, sie nicht ernst zu nehmen. Ende Artikel.
Und langfristig? Die Piratenpartei ist keine bloße Modeerscheinung des Parteiensystems, wie es immer wieder kleinere Protestparteien waren. Erfolgreiche Parteien greifen die großen Konflikte ihrer Zeit auf: Bei den Piraten ist das der enorme gesellschaftliche Wandel der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit durch das Netz.
Parteien »vor dem Netz« sind grundsätzlich immer noch wie im 19. Jahrhundert strukturiert: Institutionen und Strukturen, die teure Kommunikation und Mobilität durch Delegation und Repräsentation kompensieren und stellvertretend für ihre Milieus Politik aushandeln.
Je einfacher und billiger Kommunikation wird, je mehr sich die Milieus ausdifferenzieren, desto weniger ist die klassische Parteistruktur legitimierbar. Kritik an vermachteten und verkrusteten Parteistrukturen gibt es schon lange. Nicht erst seit den Piraten ist die Krise der gesellschaftlichen Großorganisationen, ihre abnehmende Bindekraft Thema in der Sozialwissenschaft wie im politischen Feuilleton. Die Piraten greifen dieses Unbehagen produktiv auf mit dem Versprechen von politischer Teilhabe und dem Aufbrechen dieser Systeme.
Das enge Feld der Netzpolitik ist es daher gar nicht, was die Piratenpartei zu einer ernstzunehmenden politischen Akteurin macht: Damit allein zieht niemand ins Parlament ein. Technische Fragen (wie Netzneutralität und Datenschutz) gehören zwar zur Kernkompetenz der Piraten –aber auch in den etablierten Parteien gibt es kompetente netzpolitische Fachleute, gibt es gute netzpolitische Programmatik. Was die Piratenpartei ausmacht, ist das Verständnis für die umfassenden gesellschaftlichen Umbrüche, die das Netz auslöst.
Die Gesellschaft, in der es das Internet gibt, ist nicht einfach die Gesellschaft ohne plus ein neues Werkzeug, das sich nutzen lässt oder auch nicht. Wie der Buchdruck Informationsverbreitung revolutionierte (die Reformation als Medienrevolution), wie das Auto und das Flugzeug Mobilität revolutionierten (die Globalisierungsschübe des 20. Jahrhunderts als wirtschaftliche Revolution), so verändert auch das Netz unsere Gesellschaft tiefgreifend in allen Bereichen, auch da, wo vordergründig gar kein Netz da ist. Jedes gesellschaftliche Subsystem erfährt eine Veränderung, wenn die Transaktionskosten für Kommunikation und Mobilität massiv sinken, und jede dieser Veränderungen hat Rückkoppelungen auf Normen, Verhaltensweisen und Erwartungen der Menschen. Die Piratenpartei besteht aus Menschen, die das zur Kenntnis genommen haben.
Geschenkt: Viele Piraten denken noch naiv, sich einer ideologischen Positionierung enthalten zu können; es fehlt oft an Erfahrung, Sachkenntnis und Pragmatismus , die Umgangsformen lassen oft zu wünschen übrig, die Programmatik ist lückenhaft. Das wird sich aber alles entwickeln. Die Piratenpartei wird auch weiterhin relevant sein, solange wir noch mit den gesellschaftlichen Umbrüchen des Netzes leben lernen müssen. (Und danach wird sie vielleicht, wie die anderen Parteien, die Relevanz ihres Gründungskonflikts etabliert immer wieder einbringen.) Die Piratenpartei nicht ernst zu nehmen hieße, eine zentrale politische Konfliktlinie unserer Zeit nicht ernst zu nehmen.«
Also zusammengfaßt: Nicht die Piraten sind ernstzunehmen, sondern das Phänomen, das sie nicht obgespült hat?
Great! Wenn die Konflikte ausbrechen, werden wir an die „Gute Alte Zeit“, in der die Piraten man relevant erschienen, mit Wehmut zurückdenken.
Parteien haben immer Erfolg oder auch nicht nicht nur aus eigenem Verdienst, sondern auf der Grundlage von den besonderen gesellschaftlichen und politischen Gelegenheitsstrukturen, zu denen parallel sie auftreten – sei es zufällig oder aus eigenem Verdienst. Das ist für mit Sozialwissenschaft Vertraute trivial – im nichtwissenschaftlichen Diskurs kann das aber durchaus auch mal betont werden.
Und ich warne davor, die gesellschaftliche Konfliktlinie zu unterschätzen. Das Netz pflügt unsere gesamte Gesellschaft gewaltig um.
Es gibt nichts auf der Welt, was ich dauerhaft ernst nehmen möchte. Das Kasperletheater der sogenannten Herrschenden kann ich nichtmal für Augenblicke ernst nehmen. Leid tun mir die idealistischen jungen Menschen, die mit Ansehen müssen, wie gerade Ihre Ideale in eine konforme „Partei“ umgeformt werden, die sich dem System anpaßt. Hoffentlich lernen die was daraus, wie ich das bei den Grünen lernen mußte und jeder Anständige wendet sich weiterhin ab von dem Drecksladen der Politik.
Es gibt keine Alternative zu Politik. Solange Menschen miteinander leben müssen, müssen über die Bedingungen verhandelt werden, unter denen dieses Zusammenleben gestaltet wird und die Freiheit erhalten wird. Da hilft es nicht, so zu tun, als könne man sich dem entziehen.
Die Piraten kann man dann erst ernst nehmen, wenn sie mal in der Regierungsverantwortung waren und was vorteilhaftes für das Volk bewirkt haben.
Ich mag diesen Begriff von »ernstnehmen« nicht. Du kannst die Piratenpartei gerne doof, unkonstruktiv, unerfahren, whatever finden, aber: Natürlich muß man eine Partei mindestens genau dann schon ernst nehmen, wenn sie in Parlamenten vertreten ist, und erst recht dann, wenn sie nichts Vorteilhaftes fürs Volk bewirkt. Warum die Piratenpartei darüber hinaus noch ernstzunehmen ist, habe ich erläutert. Es ist sehr typisch für neue Konflikte, daß sie zunächst von vielen gar nicht als neue bestimmende Konflikte wahrgenommen werden.