Für’s Protokoll

Der Bundestag hat vor kurzem seine Geschäftsordnung in § 78 geändert: Reden dürfen nun auch offiziell zu Protokoll gegeben werden, ohne tatsächlich gehalten zu werden. Außer eines Kommentars in der Süddeutschen von Heribert Prantl habe ich kein großes Medienecho wahrgenommen.

Nun gibt es eine ePetition dagegen, die in ihrer Argumentation deutlich den Prantl-Artikel nachzeichnet: Der Grundsatz der Öffentlichkeit werde verletzt, es finde keine echte Debatte statt, im Laufe derer sich die Abgeordneten ihre Meinung bilden könnten. Durch ein Endorsement durch fefe hat die Petition einige Reaktionen hervorgerufen. Teilweise unkommentierte Empfehlungen, teilweise auch kommentiert. Gegenstimmen habe ich noch keine wahrgenommen.

Ich zeichne diese Petition nicht mit. Ihre Absicht, nämlich ein transparentes Verfahren, um eine Kontrolle durch den Bürger zu ermöglichen, sehr wohl. Meine Probleme mit der Petition:

Die Öffentlichkeit ist nach wie vor gegeben: Alle Reden erscheinen im Protokoll, das öffentlich ist. Das ist freilich eine geringere Öffentlichkeit, da Reden nicht mehr bei Youtube eingestellt werden können, da Reden nicht mehr live bei Twitter verfolgt und kommentiert werden können. (Beides war bei der #zensursula-Debatte sehr interessant.) Dennoch: eine Fraktion oder fünf Prozent der Abgeordneten können eine tatsächliche Aussprache verlangen. Es ist zu hoffen, daß das auch bei Themen, die entsprechendes öffentliches Interesse hervorrufen, geschieht.

Die Petition spricht vom gesprochenen Wort, das Differenzierungen durch Zwischenrufe, Gesten und Mimik erlaubt. Das geht in der Tat verloren – die Petition spricht aber auch von Argumenten, »die zu einem veränderten Abstimmungsverhalten führen könnten«. Das verkennt die Arbeitsweise des Bundestags, der kein Rede-, sondern ein Arbeitsparlament ist. Damit schlägt die Petition in die gleiche Kerbe wie das populistische Lamentieren über faule Abgeordnete, die für leere Plenarsäle verantwortlich sind – dabei sind sie doch in Ausschüssen, Expertenanhörungen, Verhandlungen. Bei den Kritikern der neuen GO-Regelung herrscht zwar ein sehr sympathisches, aber eben doch auch naives Verständnis von parlamentarischer Arbeit vor; Parlamente, große wie der Bundestag zumal, sind nicht habermassche ideale Diskursräume, keine attische Volksversammlung.

Befeuert wird die Begeisterung für die Petition (zur Stunde über 2400 Mitzeichner) sicherlich dadurch, daß auch das Zugangserschwerungsgesetz durch’s Parlament gepeitscht wurde (wenn auch mit anderen Methoden). Das ist das eigentliche Problem, das auch nicht durch Debattierpflicht gelöst werden kann: Daß drei Lesungen nur als lästige Formalität gesehen werden, die gerne auch unmittelbar aufeinander folgend stattfinden können. Daß die meisten Gesetzesvorlagen aus der Exekutive und ihrem riesigen Apparat, der allein die Partikularinteressen des Ministeriums bedienen muß, kommen – wenn’s gut läuft, von der Bundesregierung (die könnte man ablehnen), wenn’s schlecht läuft aus Europa (so daß sie formal beschlossen werden müssen unter Androhung einer Vertragsstrafe).

Ein weiteres Problem (zu dem die neue Regelung auch beiträgt), das viel mehr umfaßt als nur zu Protokoll gegebene Reden: Immer mehr Gesetze werden beschlossen. Jetzt zum Ende der Legislaturperiode haben wir einen grotestken Marathon gesehen (pro 52 Sekunden ein Gesetz in einer Sitzung, schreibt Prantl). (Im aktuellen Chaosradio Express wird diese Tendenz in bezug auf Sicherheitsgesetze geschildert, wo innerhalb von Tagen Gesetze geschrieben und beschlossen werden.)

Das kann verantwortlich eigentlich kein Parlament schaffen, wo ja die gewählten Abgeordneten und nicht die Ministerialbürokratie (auch nicht Lobbyisten) Gesetze beschließen sollen.

Eine grundlegende Einsicht Montesquieus ist schon lange unter die Räder gekommen: »Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es nötig, kein Gesetz zu machen.« Stattdessen lobt Rita Süßmuth den Bundestag unter ihrer Ägide, da er so viele Gesetze wie noch nie beschlossen hat. Die groteske Masse an Gesetzen ist ein Symptom einer Gesellschaft, die nichts mehr von allgemeinem Lebensrisiko wissen will, die dem Irrglauben anheimgefallen ist, alles könne von Gesetzes wegen geregelt werden. Diese Masse ist aber auch ein Symptom dafür, daß Politik gerade zu sehr unter dem Primat einer zu unterhaltenden Öffentlichkeit geschieht, einer Öffentlichkeit, die ihr übersteigertes Sicherheitsbedürfnis durch populistische Symbolpolitik á la Zensursula gestillt wissen will.

Für das alles ist Zu-Protokoll-Geben sicherlich ein Symptom. So isoliert behandelt geht es aber am eigentlichen Kern vorbei zugunsten dem populistischen Vorurteil des faulen Abgeordneten.

2 Gedanken zu „Für’s Protokoll“

  1. Fuers Protokoll merke ich an, dass ich nicht die Zeichnung empfohlen, sondern auf die Petition an sich hingewiesen habe — ich traue meinen Lesern eigene Entscheidungen zu 😉

    Was die Gesetzgebung angeht, habe ich aber am Samstag von erschreckenden Beispielen gehoert. Ein ehemaliger Kreistagsabgeordneter erzaehlte von den Gruenden, warum er sich aus der Politik zurueckgezogen hatte, auch Anekdoten aus dem Bundestag. Da werden den Parlamentariern halt 500seitige Ausfuehrungen zu einer Beschlussvorlage einen Tag vor der Abstimmung ins Fach gelegt…

    1. Ist im Protokoll.

      Dein Beispiel ist sehr gut: Wenn Parlamente so arbeiten, kommt es nicht mehr darauf an, ob in freier Rede oder per Protokollanhang debattiert wird. Das sind die Probleme, die es anzugehen gilt.

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