Schäuble in schlechter Verfassung

Weil die SPD nicht den Koalitionsvertrag brechen wollte, hat sie sich dem Grünen-Antrag auf eine Wahlrechtsreform, die die Problematik des negativen Stimmgewichts beheben sollte, noch vor der Bundestagswahl nicht zugestimmt. Nachdem Angela Merkel auch ohne Stimmenmehrheit bei Mandatsmehrheit Schwarz-Gelb will, dämmert der SPD, was das bedeutet: Eine illegitime Mehrheit sei das. Schlechte Verlierer im voraus seien das, meint Schäuble in der Leipziger Volkszeitung, und obendrein sei »die Demokratie gefährdet«, wenn man die Legitimität der Bundestagswahl anzweifle. Schäuble irrt.

Das Interview, das mir nur auszugsweise über das Presseportal vorliegt, scheint überhaupt sehr kurios zu sein:

Es sei »ein Prinzip der Demokratie«, dass man sich über die Grundprinzipien des Wahlrechts nicht streite, so Schäuble.

Schäuble scheint auf Legitimität durch Verfahrensgerechtigkeit anzuspielen: Da eine Legitimierung über Ergebnisse nicht konsensfähig ist, muß man sich zunächst auf ein Verfahren einigen, dessen Ergebnisse dann anerkannt werden, selbst wenn das Verfahren keine vollständige Gerechtigkeit erreichen. (Rawls illustriert das in der Theory of Justice mit dem Beispiel der gerechten Aufteilung eines Kuchens für vollkommene, dem Beispiel Strafverfahren für unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit).

So reduziert betrachtet hätte Schäuble natürlich recht, wenn er das hier sagt:

Es sei »politisch in einem hohen Maß illegitim« demokratische Entscheidungen in Zweifel zu ziehen, »wenn einem das Ergebnis nicht passt«, warnte Schäuble. »Das wird mit Tricks und Tricksereien nicht besser.«

Das Wahlverfahren ist formal rechtmäßig zustande gekommen, trotz Verfassungswidrigkeit erfüllt der Bundestag die Vorgaben des Verfassungsgerichts, wenn er erst nach der Wahl das Wahlrecht ändert. Aus der Legalität folgt die Legitimität. Oder altmodisch: Pacta sunt servanda, Verträge hat man einzuhalten.

Bizarr ist allerdings, daß Schäuble das so nicht zu sagen scheint, sondern von einem »Prinzip der Demokratie« spricht, das darin bestehe, daß man über Grundprinzipien des Wahlrechts nicht streiten dürfe. Das ist offenkundig Unsinn. Prinzip der Demokratie ist die Volkssouveränität, daß also die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, und daraus leitet sich (da es eben keinen einheitlichen und objektiv feststellbaren, widerspruchsfreien Volkswillen gibt) ab, daß man ein Instrument braucht, um die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen.

(Selbst wenn man mit Rousseau annimmmt, daß es eine volonté générale, einen Volkswillen, nicht nur als Summe der Einzelmeinungen (das nennt er volonté de tous) gibt, sondern tatsächlich als den einheitlichen, objektiv richtigen, gemeinwohlförderlichen Willen: Selbst dann kommt der – zumindest bei Rousseau – nicht durch eine Deduktion zustande, sondern durch eine Art wisdom of the crowds: »Wenn die Bürger keinerlei Verbindung untereinander hätten, würde, wenn das Volk wohlunterrichtet entscheidet, aus der großen Zahl der kleinen Unterschiede immer der Volonté générale (Gemeinwille) hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut.« (Rousseau, Du contrat social, II 3, zitiert nach Wikipedia))

Wo also objektiv nicht zu entscheiden ist, muß letztendlich eine kontingente Entscheidung her, und wenn der Entscheidungskörper nicht einheitlich ist, heißt das: Mehrheitsentscheid. Kierkegaard hatte ganz recht:

Man verändert die Regierungsform, alles, alles – und das einzige, was man keinem Zweifel unterwirft, das einzig Feste ist der Glaube an die Art Entscheidung, die durch Ballotage bestimmt ist.

Und dennoch, und deshalb: Der politische Streit über die »Grundprinzipien des Wahlrechts« ist nicht nur nicht illegitim, sondern eine eminent politische Frage. Das beginnt bei grundsätzlichen Entscheidungen (Wer darf wählen? Wie sind Wahlgrundsätze auszulegen? Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht?), die schon ihrer Natur nach politisch entschieden werden müssen (in dem Sinn, daß es keine objektive Entscheidungsgrundlage gibt), und geht weiter mit mathematischen Überlegungen, die eine politische Entscheidung nötig machen wie das Arrow-Paradox, das besagt, daß es unmöglich ist, aus den Präferenzen des einzelnen immer einen konsistenten Gruppenwillen abzuleiten. (Soviel zum »Wählerwillen« …) Fragen des Wahlverfahrens haben sogar schon Wahlen beeinflußt (so in Neuseeland).

Und da will Schäuble erzählen, daß »man sich über die Grundprinzipien des Wahlrechts nicht streite«? (Daß sich die SPD selten dämlich angestellt hat, als sie nicht sofort nach dem Verfassungsgerichtsurteil eine Reform angegangen ist, war doch damals schon abzusehen, daß die CDU ein signifikant besseres Ergebnis nach gewonnenen Wahlkreisen als nach Zweitstimmen erreichen würde, steht auf einem anderen Blatt.) Daß Schäuble auf seine Autorität als »Verfassungsminister« pochen muß und nebulöse Weimarvergleiche (»Wir haben schon mal eine Demokratie in Deutschland kaputt gemacht. Wir sollten nicht wieder so anfangen.«) braucht, spricht für sich. José Ortega y Gasset in »Der Aufstand der Massen« dazu:

Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.

Das Wahlrecht ist Bedingung der Möglichkeit von Demokratie. Kaum etwas ist eine politischere Frage als die, wie man wählen soll. Und wenn hier überhaupt ein Grundprinzip der Demokratie verletzt ist, dann die Mehrheitsregel: Wenn es möglich wird, daß eine Stimmenminderheit die Mehrheit der Mandate gewinnt. Und dann ist Kritik daran nicht Trickserei, sondern Bürgerpflicht.

Nachtrag, 23. September: Was man zum Grundprinzip Mehrheitsregel noch klarstellen sollte: Problematisch ist nicht primär, wenn die höchste Summe der Einzelstimmen nicht den Sieger bestimmt (das ist in föderalen Systemen und Mehrheitswahlsystemen durchaus möglich, dort wird dann auf die Mehrheit der gewonnenen Bezirke abgehoben), sondern wenn eine abgegebene Stimme einen negativen Einfluß auf das vom jeweiligen Wähler gewünschte Ergebnis hat.

3 Gedanken zu „Schäuble in schlechter Verfassung“

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