Die »Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums« ist eine Nebelkerze. Vordergründig geht es um das Gute, Wahre und Schöne: Um die Rettung echter Kunst vor einem zerstörerischen Sturm aus Plagiaten, Epigonen und Raubkopien. Tatsächlich ist die Erklärung ein künstlerischer Offenbarungseid: Die unterzeichnenden Autoren machen sich stark für ein allzu einfaches Kunstverständnis, das in erster Linie den Verlegern dient.
Die Erklärung stützt sich auf Sätze wie Hammerschläge: »Jedes literarische Werk ist ein originäres Kunstwerk.« Das hätte der Beginn eines Plädoyers für eine Selbständigkeit der Kunst sein können, einer Unabhängigkeitserklärung, die feststellt, daß Werke ihren Wert nicht aus ihrem rechtlichen, sondern aus ihrem künstlerischen Gehalt ziehen: Eine Forderung, daß jedes literarische Werk zunächst als originäres Kunstwerk bewertet werden muß. Kunst ist nicht Olympia. Fairness ist kein ästhetischer Maßstab. Helene Hegemann sollte Buchpreise nicht wegen Fairness erhalten oder nicht, sondern wegen der Qualität ihres Werks. Kunst, jede Kulturleistung, ist ohnehin nicht denkbar ist ohne eine Verwurzelung in Vorgängern und Werken anderer. Ob implizit oder explizit: Von den Schultern der Giganten kann auch der größte und originärste Kunstschaffende nicht hinabsteigen, und sei es, indem er sich möglichst spektakulär von diesen Schultern abstoßen will.
Eine Abgrenzung der explizit als zulässig genannten Collage (man möchte ja nicht Kempowski und Döblin exkommunizieren) vom bösen Plagiat wird nicht vorgenommen. Kein Wort über Remixes, über Mashups, über – wenigstens das hätte man von Kulturschaffenden der Gegenwart erwarten können – Intertextualität. Kein Wort über die Grenze, die zwischen Anspielung, Hommage, Sprachspiel auf der einen und Plagiat auf der anderen Seite steht, und kein Wort darüber, daß gerade diese Grenze auch Quelle künstlerischer Aktivität sein kann. (Nebenbei: Wenn das raubkopierte PDF, das mir von Günter Grass‘ »Ein weites Feld« vorliegt, nicht lügt, wird übrigens der Name Fontane darin nie genannt, was selbstverständlich ein literarisches Spiel diesseits der Plagiatsgrenze ist.)
Um all das geht es in der Erklärung aber nicht. Strenggenommen geht es überhaupt nicht um Kunst. Es geht um wirtschaftliches Verwertungsinteresse; das ist nicht verwerflich, und das ist verständlich. (Die Erklärung wurde auch folgerichtig nicht etwa vom PEN initiiert, sondern vom zu ver.di gehörenden Verband deutscher Schriftsteller, und dessen Geschäftsführer äußert sich im Spiegel auch klar dahingehend.) Es ist aber nicht ehrlich: Die Erklärung verharrt im Duktus einer künstlerischen Programmatik. Und als künsterische Programmatik versagt sie völlig.
Die Leipziger Erklärung versagt in ihrem Kunstbegriff: Recht und Kunst werden nicht als verschiedene gesellschaftliche Sphären gesehen, und anstatt ein Primat der Kunst festzustellen, eine Ästhetisierung der Gesellschaft zu fordern (wie bei Beuys, »Everyone is an artist«), was wenigstens eine künstlerische Position wäre, wird ein Primat des Rechts über die Kunst festgestellt. Eine rechtsstaatliche Variante eines wilhelminischen Kunstverständnisses: Kunst ist nicht mehr, was der Kaiser schön und der Erbauung dienlich findet, sondern was vom Recht als rechtmäßig definiert wird. Mit Habermas ist das eine Kolonialisierung der Lebenswelt: Die Handlungslogik des Rechts durchdringt alle Sphären der Gesellschaft, und sogar die der Kunst, die gerade eine Antithese zur strengen Ordnung und Systematisierung des positiven Rechts ist. Nicht nur die Legitimität (das wäre schon fragwürdig genug), sondern bereits der künstlerische Gehalt der Kunst wird vom positiven Recht bestimmt: »Schutz geistigen Eigentums« genießt »uneingeschränkt Geltung und Priorität«; l’art pour l’art war vorgestern.
Es scheint, als sei die hergebrachte und wahre Kunst bedroht durch neue Technik und eine neue Mentalität. Daß es gerade Aufgabe der Kunst wäre, darauf zu reagieren, taucht nicht auf. Daß »das Internet« nicht nur ökonomische Auswirkungen hat, sondern auch kulturelle, taucht nicht auf. (Zumindest Grass sei zugute gehalten, daß er das Internet in seiner Novelle »Im Krebsgang« von 2002 zu verstehen versuchte, zwar unbeholfen formuliert und kulturpessimistisch aufgeladen, aber immerhin.) Daß nicht ein gewandeltes Kunstverständnis, gewandelte künstlerische Ausdrucksformen defekt sein könnten, sondern das Urheberrecht – das wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Das Fremdeln mit gesellschaftlichem Wandel ist ein allzu bekanntes Muster: Wenn Gesellschaften sich verändern, dann schreiben die einen Lodenromantik und Heidedichtung, die anderen »Berlin Alexanderplatz«, die einen unter Creative-Commons-Lizenzen, die anderen den Heidelberger Appell.
Es geht aber ja eigentlich nicht um den Kunstbegriff; man zeigt zwar auf das künstlerische Plagiat, meint aber die ökonomische Raubkopie. Man überhöht das Urheberrecht zum eigentlichen künstlerischen Agens, meint aber wieder einmal das Verwertungsinteresse. Das »Plagiat« wird ökonomisch und juristisch kritisiert, nicht künstlerisch:
Wenn ein Plagiat als preiswürdig erachtet wird, wenn geistiger Diebstahl und Verfälschungen als Kunst hingenommen werden, demonstriert diese Einstellung eine fahrlässige Akzeptanz von Rechtsverstößen im etablierten Literaturbetrieb.
Die Leipziger Erklärung versagt in ihrem Bild vom Künstler: Der Künstler im Sinne der Leipziger Erklärung ist das Genie. Eine überhöhte romantische Vorstellung von Urheberschaft, die heroisch aus einem einzeln schöpfenden Titanen sprudelt, so mächtig, daß nicht der künstlerische Wert des Werks zählt, sondern das ursprüngliche Genie des Künstlers. Aus der ganzen Erklärung spricht ein Verständnis von Autorschaft, das zeitlos, überzeitlich ist. Die Argumente sind historische Übertreibungen und Fehldeutungen, die den Künstler untergehen sehen, wenn es kein Urheberrecht mehr gibt. Was hier präsentiert wird, ist erst denkbar mit dem Geniekult der Romantik, des Sturm und Drangs. Der Künstler selbst sei ganz existentiell bedroht durch Plagiate:
Künstlerische Kreativität kann langfristig in einer Gesellschaft nur gedeihen, wenn Übersetzerinnen, Schriftsteller, wenn alle künstlerischen Wortschöpfer sich grundsätzlich und gänzlich darauf verlassen können, dass ihr Urheberrecht an ihren Werken geachtet wird.
Missachtung, Aushöhlung und sträfliche Verletzung des Urheberrechts führt zur Entwertung, Aufgabe und schließlich zum Verlust jedweder eigenständigen intellektuellen und künstlerischen Leistung.
Das ist nicht nur pathetisch, das ist historisch schlicht falsch. Urheberrechte sind ein relativ neues Phänomen, auch wenn schon Martial sich über Plagiate beklagt hat (und den Begriff geprägt hat). Die ersten Urheberrechte waren Verlegerrechte und bestanden im wesentlichen aus einer staatliche Aufsicht über das Druckwesen – eine Private-public partnership zwischen verlegerischem Monopol- und obrigkeitlichem Kontrollinteresse. Das erste echtes Urheberrecht ist das britische Statute of Anne von 1710; in Deutschland wurde die Materie erst 1837 geregelt (auch wenn bereits 1793 Fichtes »Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks« publiziert wurde), international sogar erst 1886 mit der Berner Übereinkunft. »Eigenständige intellektuelle und künstlerische Leistung« ist mittlerweile (geschichtswissenschaftlich gesichert) eindeutig für die Zeit vor 1710, vor 1837, vor 1886 nachgewiesen.
Darin zeigt sich, daß der Appell ein Projekt von Großschriftstellern ist: Ein Interesse daran, Kunst nicht nur zu schaffen und zu verkaufen, sondern auch zu verbreiten, weiterzuverarbeiten, zu rezipieren, besteht nicht. Es ist die Sicht von Großschriftstellern, die von ihrer Arbeit leben können, die ohnehin Verbreitung finden und für die der Absatz so lohnend ist, daß sie seine Schmälerung durch »Raubkopien« tatsächlich fürchten. Das Plagiat, das die unbekannte Bloggerin wie den Nobelpreisträger gleichermaßen treffen kann, ist nur vorgeschoben. Die »materielle Basis allen kreativen Schaffens« ist für die meisten Schriftsteller nicht das Urheberrecht, ist nicht das Honorar, sondern dasselbe, das schon Martial zu Lohn und Brot verholfen hat: klassisches Mäzenatentum, heute in seiner modernen Form, also Literaturpreise und Stipendien – oder ein »richtiger« Beruf.
Wenn die Erklärung damit endet, daß der »Wert der Wortkunst und die künstlerische Freiheit aller Autorinnen und Autoren« geschützt werden soll, dann ist mit »Wert« allein der ökonomische gemeint, und »künstlerische Freiheit« ist nur die Sicherheit, daß die Kunst in einem romantisierten Status quo ante verharrt, den auch die alte Garde der Leipziger Erklärenden versteht und beherrscht.
Schön kommentiert! Besonders entlarvend fand ich ja diesen Satz: „Missachtung, Aushöhlung und sträfliche Verletzung des Urheberrechts führt zur Entwertung, Aufgabe und schließlich zum Verlust jedweder eigenständigen intellektuellen und künstlerischen Leistung.“ Dass soll doch wohl heißen: Wenn wir dafür nicht gebauchpinselt und bezahlt werden, stellen wir das Denken und Schaffen ein. Genau so eine Kunst, die geschaffen wird, um dadurch Status und Geld zu bekommen, brauchen wir aber nicht. Hier könnten sich die Künstler_innen auch mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung verbünden (etwa dem Feminismus), wo schon lange gefordert wird, Erwerbsarbeit und Einkommen zu trennen (tun ja auch viele, diese Erklärung repräsentiert ja nur eine kleine Gruppe).
Gut gefällt mir auch dein Bild von den Titanen. Es ist eine männliche Vorstellung vom „Originale schaffenden Genie“, das hier zelebriert wird. Frauen haben über viele Jahrhunderte vorwiegend anonym geschrieben, oder unter Pseudonymen. Es geht beim (künstlerischen) Schreiben nicht um Geld, Anerkennung und Status, sondern darum, etwas zu schreiben, wovon man glaubt, dass es geschrieben werden muss. Dass auch Leute, die das machen, Geld haben müssen und materiell abgesichert sein müssen, stimmt. Aber das Urheberrecht ist dafür nicht das geeignete Instrument (und, bytheway, war es auch noch nie).
Glückwunsch, Sie haben es ja sogar in den Perlentaucher geschafft, das Sturmgeschütz der unsterblichen Internetrevolution!
http://www.perlentaucher.de/feuilletons/2010-03-19.html#a26955