Gegen die mediale Normalisierung bürgerrechtlicher Wurstigkeit

Fleisch, Autobahn, Tatort. Wer diese Dreifaltigkeit der deutschen Zivilreligion angreift, macht sich unbeliebt. Einige grüne Rechtspolitiker_innen (sowieso der Häresie an zwei der Gestalten verdächtig) haben die dritte angegriffen: Unter @tatortwatch wird der Sonntagstatort live per Twitter einem Grundrechtecheck unterzogen. (Die Livevariante des verdienstvollen Zeit-Artikels von Sabine Rückertselben Ziels.) Und natürlich sind die Reaktionen nicht nur positiv. Ich finde @tatortwatch großartig: Die mediale Normalisierung von bürgerrechtlicher Wurstigkeit bis hin zu Polizeigewalt wird sichtbar, Rechte gegenüber der Polizei deutlich gemacht.

Die Süddeutsche hat exemplarisch Gegenwind auf Twitter dokumentiert. Die Kritik an @tatortwatch ist breit: Nannystate-Ideologie, Bevormundung und »Birkenstock als neue Pickelhaube« (weil auf die positive Darstellung übergriffiger Exekutive hingewiesen wird?), Tugendfuror (weil wichtigste Tugend der Jakobiner war, Gewalt unter dem Vorwand des Guten anzuprangern?), die sollen sich um wichtigeres kümmern (Robbenbabys!^WUnstrafverteidigte Jugendliche!), die Verwechslung von Fiktion und Realität (als würde Fiktionalität allen medien- und kunstethischen Reflexionen den Boden entziehen), und natürlich wird schließlich Kunst- und Meinungsfreiheit angemahnt (als würden die aller Kritik entheben). Die Kritik kommt nicht nur vom offensichtlichen Gegner, auch Leute, die eigentlich zum eigenen Milieu gehören, reagieren dünnhäutig. Mit dem Tatort wird etwas kritisiert, das wärmend-heimatliches Herdfeuer für viele ist, und die wenn nicht Kriminalisierung, so doch Inkriminierung auch noch bei Twitter, auf dem eigenen gemeinschaftsstiftenden Hashtag, wendet sich gegen die Gemeinde.

Kein Wunder, daß die Reaktionen so massiv sind. Auch deshalb finde ich das Projekt großartig. Ansonsten staats- und obrigkeitskritische Linke und Liberale sehen den Tatort Woche für Woche ganz unkritisch, und bei einigen wundert es mich Woche für Woche, wie sie so ganz absehen können von der dargestellten Überheblichkeit der Polizei, den Rechtsbrüchen, dem nonchalanten Umgang mit dem ohnehin großzügig zur Seite der Polizei hin irrenden Polizeirechts – alles im Dienst einer effizienten Polizeiarbeit, der Ergebnisorientierung viel wichtiger ist als Rechtsstaatlichkeit und Beschuldigtenrechte. Das thematisiert @tatortwatch, indem es die schöne Sonntagsunterhaltung eben nicht nur als Unterhaltung liest.

Natürlich, es ist eine Krimiserie, keine Dokumentation und kein Lehrfilm. Und dennoch prägt auch diese Fiktion, was gesellschaftlich als normal angesehen wird. Auch der Tatort (gerade im einem »Bildungsauftrag« verpflichteten öffentlich-rechtlichen Fernsehen) ist ein Lernort. (Im Zuge der viel deutlicher fiktionalen Serie 24 wurde diskutiert, inwiefern die gezeigte Folter durch den Protagonisten zu einer Verrohung von Soldat_innen beigetragen hat.) Der Tatort als Qualitätsfernsehen, als Flaggschiff der ARD-Unterhaltung ist der Goldstandard bei der vorgeblich realitätsnahen Darstellung von Polizeiarbeit im Fernsehen – und Unterhaltung ist nie neutral, erst recht nicht wertneutral. Unterhaltung prägt Wahrnehmungen und Einstellungen. Nicht nur das Private, auch das Öffentlich-Rechtliche ist politisch.

@tatortwatch sorgt für ein Gegengewicht: Beschuldigtenrechte, die Polizei als ein Element staatlicher Gewalt, die daher nicht nur und von vornherein gut ist und der demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle und Zügelung bedarf, das kommt selten vor im Fernsehen, und wenn, dann das erste als Ärgernis und Ermitttlungshindernis, das zweite als der Einzelfall des einen gefallenen bösen Polizisten. @tatortwatch nervt gerade deshalb, weil es dieses schöne deutsche Idealbild des Freunds und Helfers sowie des gemütlichen, harmlosen Fernsehabends mit rechtsstaatlicher Kritik in Frage stellt – das ist bürgerschaftliche Bildung und das genaue Gegenteil von Nanny-Ideologie und Bevormundung.

Ich freue mich auf den nächsten Tatort mit @tatortwatch.

10 Gedanken zu „Gegen die mediale Normalisierung bürgerrechtlicher Wurstigkeit“

  1. Der Grund dafür , daß “Linke und Liberale ” den Tatort so gerne schauen, dürfte darin liegen, daß er seinem Bildungsauftrag so hervorragend nahe kommt:
    Der irgendeiner Minderheit oder gefühlten Minderheit zuerst Tatverdächtige, stellt sie als unschuldig oder – besser gar – sogar als Opfer heraus, dem ersten im Film auftauchenden männlichen weißen Anzugträger wird dafür im Laufe der Sendung die Maske seiner bürgerlichen Existenz entrissen und er wird als Täter überführt. (Bonuspunkte für die Regie, wenn auch noch seine nur dem Anschein nach heile Familie als zerissen und verlogen entlarvt wird.)

    Der Grund, daß die Polizeigewalt akzeptiert und “Beschuldigtenrechte” geflissentlich ignoriert werden, liegt einfach darin begründet, daß es Folge für Folge “die Richtigen” trifft.

    Wenn es die nämlich trifft, dann war der “ansonsten staats- und obrigkeitskritische Linke und Liberale ” noch nie zimperlich.

      1. Nein, ganz anders. Ich verstehe, was er gelesen hat und ich könnte es nicht schöner ausdrücken.

        Ich glaube dein Problem beginnt dort, wo du nicht verstehst, was du geschrieben hast.

        1. Tatortwatch gehört gerade nicht in die Reihe »Falschparkeraufschreiber, Bullenrufernachbar, Raucherkneipendenunziant, Mülltrennungsaufpasser, Kehrwochenkontrolleur« – es hinterfragt überbordende bürgerliche Ordnungsvorstellungen.

            1. Ihr verstrickt euch grade in zu vielen Negationen… Philip du kritisierst ‘Falschparkeraufschreiber’ als ‘ueberbordende buergerliche Ordnungsvorstellung’. Felix, du sagst, Tatortwatch kritisiert ”ueberbordende buergerliche Ordnungsvorstellungen’. Sieht demnach aus, als waert ihr der selben Meinung. Entweder habt ihr euch verargumentiert oder gegenseitig missverstanden.

              1. Keiner versteht mich.

                Ich empfinde tatortwatch als etwas, was ich unter ‘Dinge, die die Welt nicht braucht’ abheften kann.

                Der Herr Neumann empfindet tatortwatch als Bereicherung seines Lebens, und findet weiterhin -und das ist der Punkt, über den ich mich aufregen könnte, wenn ich nicht so entspannt wäre- das dies auch eine Bereicherung anderer Leben sein könnte – und noch besser: wäre. Beziehungsweise, es ist eigentlich eine Bereicherung aller Leben, nur haben das einige Leute noch nicht erkannt.

                Das kann man jetzt mit den neudeutschen Worten: Spin oder Agendasetting belegen, oben ist auch die Bevormundung erwähnt (allerdings nicht richtig erkannt); in den Breiten, in denen ich lebe, sagt man: Scheinheilig.

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