Mein Vater war ein Höhlenmann, und mir steckt's auch im Blut

Der Spiegel überrascht mit seinem Weihnachtstitelthema: Kreationismus. Etwas enttäuschend, wie ich finde. Bis jetzt tat sich eben diese Publikation immer mit zwar polemischen, dafür aber unfundierten Religionsthemen hervor, und plötzlich gibt’s keinen völlig undifferenzierten Rundumschlag mehr. Online liest man folgendes:

Doch ein allgemeines Unbehagen angesichts des Triumphzugs der Genome bleibt. Katholiken und Protestanten betonen gern die ethischen Probleme, die damit verbunden sind. Die Skepsis ist überall die Gleiche, denn es geht ans Eingemachte: Wenn alle Geheimnisse des Menschseins ausgeplaudert und in Datenlisten gespeichert und auf Reagenzgläser verteilt sind, dann ist Gott bald so überflüssig wie ein Schreiber mit Federkiel in einer High-Tech-Druckerei. Um die Welt der Biologen zu erklären, braucht ihn kein Mensch mehr.

Mit diesem seltsam zwischen Trotzdem-glauben-Wollen und Unfähigkeit, dem unreflektiertem Naturalismus etwas entgegenzusetzen, pendelndem Artikel wird der Sache ein Bärendienst geleistet. Und zwar nicht nur dem Glauben, sondern auch der Wissenschaft. Die Arkandisziplin Biologie wird verabsolutiert, der naturalistische Fehlschluß feiert fröhliche Urständ, der ontologische Vorrang der Seinsfrage ist auch nur hingeheideggert, und Wissenschaftstheorie hat ausgepoppert. (Wie es anders geht, zeigt der Jesuit Christian Kummer heuer in den Stimmen der Zeit.)

Sozialkapital

Daß Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist (neumodisch heißt das »spiritual capital«), galt lange als gesichert, und keine Sonntagsrede (auch meine nicht) kommt ohne den alten Böckenförde aus.

Im aktuellen Journal of Religion and Society allerdings wird versucht, diese These zu widerlegen. Cross-National Correlations of Quantifiable Societal Health with Popular Religiosity and Secularism in the Prosperous Democracies nennt Gregory S. Paul seinen Artikel.

Ohne die empirischen Daten überprüft zu haben, sehe ich da einiges Potential für Kritik:

  • Der Autor versteht mal wieder Kardinal Schönborn falsch, der eben nicht die Evolution anzweifelt und Redneck-Hillbilly-Kreationismus predigt, sondern nur das sagt, was selbstverständlich allen (?) Christen gemeinsames Glaubensgut ist: Gott hat die Welt erschaffen. Was danach technisch passierte und wie, darüber muß die Bibel gar keine Aussage machen. Deshalb alle Christen unter das pejorative Label »Kreationist« zu packen (cf. dort Fußnote 1), mag technisch zulässig sein, wirft aber ein eindeutiges Licht auf die Vorurteile des Autors – auch unter Christen ist der methodische Atheismus als notwendig akzeptierte Forschungsgrundlage unumstritten.
  • Im wesentlichen scheint es darum zu gehen, zu belegen, daß die USA eben nicht die leuchtende Stadt auf dem Hügel ist – ein ehrenwertes Ziel: man kann nur jeden darin bestätigen, der den Evangelikalen die Bigotterie vorhält, für die Todesstrafe (am besten noch bei Minderjährigen und geistig Behinderten), Abtreibungsgegner (am besten noch mit Anschlägen auf Abtreibungskliniken) und NRA-Mitglied zu sein. Den desolaten Zustand der amerikanischen Gesellschaft (den der Autor unter anderem mit Mord- und Selbstmordraten operationalisiert) aber auf die Religiosität dort zu beziehen, scheint mir bestenfalls gewagt. Es wird zwar selbstkritisch auf kompliziertere Funktionen verzichtet, um die Korrelation nachzuweisen, als Gegenprobe hätte man sich aber doch noch angeboten, die Sozialsysteme den Indikatoren für die desolate Gesellschaft gegenüberzustellen.
  • In armen und wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern gibt es stärkeren Glauben. Folgerung: Wer weniger gläubig ist, ist wirtschaftlich erfolgreicher. Der ursächliche Zusammenhang wird nicht bewiesen (daß die USA ohnehin ein Sonderfall ist, wird immer wieder betont). Wenn überhaupt, dann andersrum (eine Behauptung, die ich natürlich ebenso wenig hier belege): Je saturierter eine Gesellschaft ist, desto mehr verdrängt sie, daß nicht alles technisch lösbar ist. (Und desto hilfloser steht sie den menschlichen Konstanten gegenüber, die sie, da unbeherrschbar, verdrängt. Gibt es in den Entwicklungsländern Sterbehilfevereine?) Mt 19,23 ist eben mehr als Müntefering für Christen, sondern eine im Grunde traurige soziologische Wahrheit.