Das ganze Elend der SPD im Fragment eines Satzes: »Stellen etwa ausschreiben?« ist ein Interview mit Egon Bahr in der Stuttgarter Zeitung überschrieben. »Stellen etwa ausschreiben?« fragt sich der alte Fahrensmann. In seine Welt paßt nur die Methode Hinterzimmer, immer in Furcht vor der Presse, der offenen Flanke mangels Geschlossenheit:
Es mussten sich jene zusammensetzen, die für Führungspositionen in Frage kommen – ja wer denn sonst? Und als die sich verständigt hatten, haben sie das den Gremien vorgetragen, also Präsidium und Vorstand. Wie anders sollte man denn vorgehen? Soll man die Stellen etwa ausschreiben, Umfragen machen oder Urwahlen abhalten? Wer so etwas für möglich hält, ist entweder naiv oder nicht von dieser Welt!
Es geht nicht nur um eine Debatte um den politischen Stil innerhalb der SPD. Die Krise der SPD ist ein Symptom für einen Paradigmenwechsel in der Politik. (Die Piratenpartei ein anderes.)
Bahr fährt immerhin damit fort, daß das Vorgehen danach ja »von den Gremien legalisiert worden« sei. Welcher Begriff von Legalität liegt dem zugrunde? Er spricht von Legalisierung, nicht Legitimierung; offensichtlich sieht er das Vorgehen als legitimiert, nicht gegen die Satzung, sondern der Satzung vorgelagert. (»Legalisieren« darf man hier wohl mit »in den satzungsgemäßen Prozeß einspeisen« übersetzen.) Selbstverständlich ist es legitim, Beschlüsse, Personalentscheidungen, schlichtweg alles, worüber beschlossen werden kann, vorzuberaten; die Legitimität schwindet aber dann, wenn eine Gremium seine Machtposition ausnutzt, um Angebote zu machen, die man nicht ablehnen kann. Der Vorschlag ist dann zwar legal, nicht aber legitim.
Dieses Vorgehen ist freilich nicht nur in der SPD üblich; es ist schlicht eine politische Handlungslogik, die in den meisten Gremien mit gewisser Öffentlichkeitswirkung vorherrscht. Egon Bahrs (und er kommt aus einer Zeit, die noch Brandts »Mehr Demokratie wagen« kannte) völliges Unvermögen, die Frage nach einer Beteiligung der Basis auch nur ernsthaft zu erwägen, spricht Bände.
Die Frage nach dem politischen Stil, die Frage nach einer politischen Kultur ist nicht Gedöns, sondern eine eminent politische: Wie wollen wir gemeinsam arbeiten? Wie sollen gemeinsame Ziele erreicht werden? Die Sozialdemokratie sollte eigentlich gerade nicht die Partei des Basta sein. Das könnte die autoritäre, konservative CDU sein. Das könnte eine Honoratiorenpartei FDP sein. Das könnte ein Zentralkomitee der Linkspartei sein. Die SPD ist aber eigentlich anders. Sie stand für das politische Arbeitermilieu, für die Beteiligung jedes einzelnen Genossen im Ortsverein. Deshalb bricht sich der Unmut gerade bei der SPD Bahn: Die Partei will Partei Willy Brandts, nicht Gerhard Schröders sein.
Auch wenn Gabriel jetzt gewählt ist (und das mit einem unanständig guten Ergebnis): Eigentlich ist das Politikmodell, für das dieses Vorgehen steht, von gestern. Funktionäre, Honoratioren, Parteiapparate, Top-down-Prozesse, all das dient (nicht nur dem Machterhalt weniger, sondern auch:) der Senkung von Transaktionskosten. Wenn Kommunikation teuer ist, wenn man um zu entscheiden an einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gehen muß, ist keine breite Beteiligung möglich. Parteitage legitimieren nur noch, sie beraten im eigentlichen Sinne nicht. (Diese Unsitte haben SPD und Union perfektioniert.) Direktere Formen der Demokratie können nur (abseits von Urwahlen und grundlegenden Beschlüssen) funktionieren, wenn auch eine umfassende Partizipation möglich ist. Wo das nicht der Fall ist, braucht es kleinere, arbeitsfähige Gremien, die sich physisch treffen.
Der politische Paradigmenwechsel, der die Piratenpartei stark (in einem sehr begrenzten gesellschaftlichen Segment freilich) und die SPD schwach gemacht hat, hängt mit einem technischen zusammen: Eine Generation, die Informationen und Nachrichten immer sofort nachschlagen kann, die blitzschnell recherchiert und kommentiert, überträgt dieses Verhalten auch in ihr politisches Handeln: Beteiligung, Rückmeldung und Dialog wird eingefordert, besser noch die Möglichkeit, gezielt und ausgewählt an interessanten politischen Fragen mitzuarbeiten (und dabei wirklich etwas zu bewirken).
Der SPD wurde zum Verhängnis, daß Basta-Politik gerade für sie nicht nur zu den ganz jungen, sondern auch zu den ganz alten Mitgliedern nicht paßt. Was sich hier abzeichnet, wird über kurz oder lang aber alle Parteien erreichen: Wenn Partizipation technisch möglich ist, wird sie auch politisch eingefordert, und es wird sich nicht mehr begründen lassen, warum es einsame, in der Breite undiskutierte Hinterzimmerbeschlüsse sind, die das politische Handeln der Partei bestimmen.
Das stellt freilich die Parteien vor ein Dilemma: Natürlich kann jeder technisch teilnehmen – nur: wenn alle das tun, funktioniert es gerade nicht mehr. (Wie soll ein Bundespolitiker sinnvoll Twitter und andere soziale Netzwerke zum Dialog nutzen und dabei auch noch seine eigentliche Arbeit machen?)
Eine Lösung gibt es, die allerdings in Deutschlands politischer Kultur nicht sonderlich wohlgelitten ist: Radikaler Föderalismus. Radikale Subsidiarität. Jede Ebene beschäftigt sich nur mit dem, was eine untere Ebene nicht leisten kann, während die unteren Ebenen frei in der Wahl ihrer Mittel sind. Das bedeutet einen radikalen Kontrollverlust für die oberen Ebenen. Das ermöglicht aber auch, daß die oberen Ebenen davon entlastet werden, sich etwa für Koalitionen auf Landesebene zu rechtfertigen. Und bis dahin kann man, Herr Bahr, zumindest »Stellen […] ausschreiben, Umfragen machen oder Urwahlen abhalten«.
Ein anderer Sozialdemokrat dazu, der keinen Facebook-Account hat, der nicht twittert:
Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
[…]
Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.
Ein Gedanke zu „Was kommt nach dem Basta?“