»Digital« heißt eigentlich nicht viel mehr als: In Zahlen codiert. Heutzutage muß »digital« als Metapher herhalten für alles, was mit IT zu tun hat. Ganz selbstverständlich spricht man von digital natives und der »digitalen Generation«.
Das ist schmissig, das ist griffig – trifft aber gerade nicht das Politikverständnis, das sich im Zuge der Digitalisierung ausbreitet: Gerade die Digitalisierung trägt dazu bei, daß Politik weniger digital ist.
Digital heißt zwar nicht notwendig binär – die Zwischentöne fehlen aber in jedem Fall. Um schwierige Sachverhalte einfacher zu fassen, muß man sie herunterbrechen. Das ist klassische Politik. Klassische Entscheidungsprozeduren – für die meisten also nur: an Wahlen teilnehmen – sind in gewisser Weise binär: Entweder man stimmt einem Gesamtpaket zu – oder nicht.
In seiner reinsten Ausprägung führt das zu klaren Gegensätzen: rechts–links; bürgerliches Lager, linkes Lager. Anhand einer Dimension werden Alternativen eingeordnet. Das ist eine notwendige Verkürzung, um Komplexität handhabbar zu machen. Binäre Politikschemata senken Transaktionskosten, so wie große Parteiapparate, umfassende Welterklärungen und Ideologien Transaktionskosten senken. Massendemokratie muß mit dem Paradox leben, daß auch das Komplexeste unterkomplex heruntergebrochen werden muß, wie Peer Steinbrück im FAZ-Interview beklagt:
Wir vermitteln den Eindruck, als ob Politik etwas Digitales sei, null oder eins, entweder oder. Politik kennt unendlich viele Differenzierungen. Politik besteht aus dem ständigen Schließen von Kompromissen, die übrigens in Deutschland immer als „faul“ bezeichnet werden, obwohl anders ein Konsens gar nicht möglich ist, ohne dass man sich die Köpfe einschlägt.
Auch wenn Politiker a.D. das in Sonntagsreden und Interviews beklagen: Natürlich bleibt dieses digitale Politikverständnis vorherrschend, solange es funktioniert, also Funktionäre mit Posten versieht. Das Kontinuum der Politik, die mühsame Arbeit der Verhandlung und des Kompromisses wird in Hinterzimmer verlegt (was digital ist, ist notwendig diskret), weil es scheinbar zu komplex für die massenmediale Öffentlichkeit ist. Das Ergebnis: Parteienverdrossenheit, wo gerade keine Politikverdrossenheit ist.
Das Ziel des Grundgesetzes, daß Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, setzt Parteien in eine Vermittlerfunktion. Eine Funktion, die immer die Gefahr einer Digitalisierung von Sachverhalten mit sich bringt: »Freiheit oder Sozialismus« etwa. Das mag unverzichtbar gewesen sein, als Öffentlichkeit nicht für jeden zu haben war, als Pressefreiheit zu nutzen teuer war. Wenn aber Information und Kommunikation billig ist, wenn jeder seine Filter selbst konfigurieren kann und soziale Netze selbstorganisierend Relevanz abbilden, dann hat Digitalisierung es möglich gemacht, digitale Politik aufzubrechen:
Eine Generation, die Informationen und Nachrichten immer sofort nachschlagen kann, die blitzschnell recherchiert und kommentiert, überträgt dieses Verhalten auch in ihr politisches Handeln: Beteiligung, Rückmeldung und Dialog wird eingefordert, besser noch die Möglichkeit, gezielt und ausgewählt an interessanten politischen Fragen mitzuarbeiten (und dabei wirklich etwas zu bewirken). (Was kommt nach dem Basta?)
Eine Entdigitalisierung der Politik erfordert natürlich, daß bestehende digitale Strukturen aufgebrochen werden – zum Beispiel mit mehr Digitalisierung, mehr maschinenlesbaren Daten, die Expertenwissen demokratisieren. Zum Beispiel Abstand zu nehmen vom Trend, möglichst alles zu zentralisieren und auf Bundesebene zu holen: Mehr Föderalismus, kleinere politsche Einheiten schaffen, die dann überschaubarer sind und die Dialog nicht nur per Massenkommunikation ermöglichen. Zum Beispiel ein Wahlsystem, das nicht nur Gesamtpakete kennt, wie es etwa in Baden-Württemberg bei der Kommunalwahl benutzt wird: Auf den einzelnen Listen werden tatsächlich Kandidaten gewählt, es kann kumuliert und panaschiert werden. (Mehr Demokratie e.V. hat dazu eine schöne Broschüre veröffentlicht.) (Das würde dann auch dem Verständnis des einzelnen Abgeordneten als dem eigentlichen Volksvertreter, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist, eher entgegenkommen.)
Der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit hat eine Auswirkung auf die Erwartungen an die Politik. Je weniger es großer Apparate und großer Ideologien bedarf, um politische Prozesse zu digitalisieren, desto stärker wird auch das Bedürfnis, Politik tatsächlich zu entdigitalisieren und Gatekeeper, die nur noch um ihrer selbst Willen die Tore zur Information kontrollieren, zu entthronen.
All das sollte man bedenken, wenn man das nächste Mal von einer »digitalen Generation« redet. Das digitale Zeitalter kann auch das Ende der digitalen Politik sein.
– und wenn man dann doch unbedingt das neue Politikverständnis weiterhin als »digital« bezeichnen möchte: Im Duden findet man als erste Bedeutung noch »mit dem Finger« (denn »digitus« ist der Finger im Lateinischen). So gesehen ist das Politikverständnis der digitalen Generation tatsächlich digital, im Sinne Bert Brechts »Lob des Lernens«:
Laß dir nichts einreden,
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung,
Du mußt sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten,
Frage: wie kommt er hierher?
Ein Gedanke zu „Das Ende der digitalen Politik“