Wozu eine Bundespräsidentin? Was sie als Staatsnotar leistet, könnten auch andere Stellen leisten: Beamte und Regierungsmitglieder ernennen, Gesetze gegenzeichnen, völkerrechtliche Verträge unterzeichnen. Die Funktion in Krisen ließe sich parlamentarisch lösen (ohnehin haben Kohl und Schröder die Vertrauensfrage zum kanzlergesteuerten Selbstauflösungsrecht des Parlaments umgebaut), allein für das Gnadenrecht scheint eine passende Instanz zu fehlen, und für allfällige Repräsentations- und Integrationsaufgaben macht es Helmut Schmidt noch eine Weile.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr scheint mir doch ein Sinn im Amt der Bundespräsidentin zu liegen: Als die parlamentarische Kanzlerdemokratie stützende symbolische Gewalt. (Und damit gerade nicht eine neutrale Gewalt, pouvoir neutre, als die das Amt immer wieder bezeichnet wird.)
Daß es ein Staatsoberhaupt geben sollte, war am Ende des Verfassungskonventes von Herrenchiemsee bald klar (auch wenn noch der Minderheitsvorschlag für den Artikel 75 eines Bundespräsidiums vorlag, bestehend aus dem Präsidenten des Bundestags, dem Präsidenten des Bundesrats (oder, auch noch nicht entschieden, des Senats) und dem Bundeskanzler).
Ein Staatsoberhaupt wurde auf Hohenchiemsee als »entscheidende[r] Schritt zum vollen Staat« (Bauer-Kirsch 2005, S. 83) bezeichnet (und das »Bundespräsidium« als eindeutige Interimslösung, ebd., S. 82.), es war nur fraglich, ob das Amt besetzt werden könne oder solle während Besatzung und Provisorium. Dennoch: Die Bundespräsidentin hat es unter die »unbestrittenen Hauptgedanken« geschafft:
4) Neben der Regierung steht als neutrale Gewalt das Staatsoberhaupt. Die Funktion wird zunächst behelfsmäßig versehen. Nach Herstellung einer angemessenen völkerrechtlichen Handlungsfreiheit und nach Klärung des Verhältnisses zu den ostdeutschen Ländern wird sie nach der überwiegenden Meinung von einem Bundespräsidenten übernommen.
Noch bevor diese Frage aber entschieden wurde, war – ohne Diskussion! (ebd. S. 157) – klar, daß das Oberhaupt nicht die Machtfülle des Weimarer Reichspräsidenten haben sollte; keine unmittelbare Wahl, um Himmels Willen keine Notverordnungen. Bei aller Distanz zu Weimar: Warum dann überhaupt ein Staatsoberhaupt?
Zeigt sich sich hier bloß die eigentümliche juristische Konstante, daß nichts ohne ein Oberhaupt gedacht werden kann (selbst für die Familie hat das zumindest im Steuerrecht überdauert, wo die Frau auf Formularen als Anhängsel ihres Ehemanns auszufüllen ist) – die patriarchale Konstruktion des Paterfamilias, die organische Analogiekonstruktion des body politick, der eines Hauptes bedarf? Ist es ein Rest Obrigkeitshörigkeit, die halb dem Kaiser, halb dem Führer, in jedem Fall aber dem einen an der Spitze nachtrauert?
Es liegt nahe, mit Verweis auf diese Tradition das Amt einfach als historische Arabeske des Grundgesetzes ohne Notwendigkeit und Funktion abzutun. (Und ich selbst habe das früher auch getan.)
Mittlerweile glaube ich aber, daß das Amt eine sinnvolle Funktion dabei wahrnimmt, die Gewaltenteilung zu unterstützen. Nicht durch eine Festschreibung der Gewaltenteilung im Grundgesetz. Das Grundgesetz ist oft eine retardierende Verfassung, die nicht nur auf explizite checks and balances setzt, sondern auch politische Psychologie berücksichtigt, berücksichtigt, daß »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden« – daraus spricht eine große politische Weisheit: Das Politische tendiert immer dazu, Primat über das Recht zu gewinnen. Das zeigt sich an der amerikanischen Verfassung, deren Konzept der enumerated powers (der Kongreß darf nur das tun, wozu ihn die Verfassung explizit ermächtigt) heute nur noch von einigen Sektierern wie Ron Paul ernstgenommen wird, das zeigt sich am Vertrag von Maastricht, der zwar eine explizite No-Bail-Out-Klausel kennt, die einzufordern aber als »europaskeptisch« und »nationalistisch« gilt. An die Stelle des Rechts tritt der Primat der Politik: Das wird befürchtet, wenn der Präsident zu viel Macht erhält.
Was auf Herrenchiemsee und im parlamenarischen Rat als so selbstverständlich angenommen wurde, daß das Scheitern von Weimar in der starken Stellung des Präsidenten als Ersatzkaiser lag, lief doch einer deutschen (nur deutschen?) politischen Kultur zuwider, die große Männer schätzt und sich um sie schart (doch ist diese Tradition irgendwo außerhalb der Schweiz anders?), dagegen das Parlament als »Schwatzbude« verachtet, einer Kultur des konsensualen, antipalarmentarischen Affekts, der sich in deutschen Wörtern wie »Parteiengezänk« zeigt (aber ist das wirklich spezifisch deutsch, vgl. Obamas Rhetorik, der kein linkes Amerika, kein konservatives Amerika mehr kennt, nur noch die Vereinigten Staaten von Amerika).
Auch wenn nach Weimar die Exekutivmacht nicht zwischen Regierung und Staatsoberhaupt aufgeteilt wurde, wurde doch Macht geteilt: Die Regierung hat die Exekutivmacht, der Präsident die symbolische Macht. Mit Max Weber argumentiert: Eine Republik zieht ihre Legitimität aus ihrer Legalität; die Macht muß also als legale Herrschaft organisiert sein; dennoch gibt es ein Bedürfnis, eine Anfälligkeit nach charismatischer Herrschaft. Der legalen Herrschaft der Regierung, die die Exekutivmacht hat, wird die charismatische Herrschaft der Präsidentin, die nur das Wort und keine Exekutivmacht hat, entgegengestellt. (Diesen und den nächsten Absatz habe ich schon letztes Jahr formuliert, nachdem ich ursprünglich – ganz anders argumentierend – das Amt abschaffen wollte.)
Ohne ein starkes Gegenüber der Regierung besteht die Gefahr, daß die Regierung auch die symbolische Macht zugesprochen bekommt. Wenn sie aber nicht mehr allein nach Kriterien der legalen Herrschaft, sondern nach denen charismatischer Herrschaft beurteilt wird, droht eine Überschreitung ihres rechtlichen Rahmens.
Auch wenn mit Roman Herzog der Bundespräsident »streng nach dem Grundgesetz überhaupt keine einzige Rede halten, um seine verfassungsmäßigen Aufgaben zu erfüllen«, sind die praktischen Funktionen der Bundespräsidentin gerade nicht das, was sie nötig macht: Da, wo sie benannte Funktionen hat, ist sie unnötig.
Wo sie nötig ist, muß sie moralisches Kapital anhäufen und angehäuft haben. »Würde des Amtes« darf nicht als Immunisierungsstrategie gegen Kritik benutzt werden – sie muß Maßstab der Amtsführung sein. Ein honorige erste Frau im Staat, überparteilich geschätzt und Fluchtpunkt einer Sehnsucht nach politischem Charisma, klug abwägend und integrierend, schafft den wirklich wirkenden Gewalten eine unprätentiöse, bloß legale Ausübungmöglichkeit staatlicher Macht – freilich: vor allem der Möglichkeit nach.
Naja… Immerhin die erste Verteidigung des Amtes, die ich nicht auf Anhieb abwegig finde.
So ganz gehe ich nicht mit, aber ich könnte mir zumindest vorstellen, die Argumentation anzuerkennen.
Aber das Begnadigungsrecht muss auf jeden Fall weg.
Auch beim Gnadenrecht bin ich mir so sicher nicht: Das Gnadenrecht erkennt an, daß positives Recht immer verallgemeinern muß und damit nicht jedem einzelnen Fall gerecht werden kann.
Vor einiger Zeit hat Augušt Maria Neander das so ausgeführt:
Nee. Damit kann ich mich nicht anfreunden.
Genau deshalb, weil das Gesetz allgemein sein muss, gibt es Richter mit Entscheidungsspielraum. Ein Staatsoberhaupt, das sich quasi willkürlich einmal im Jahr ein halbes Dutzend Fälle raussucht und dann einfach mal die Entscheidungen der Judikative nach Gutdünken aufhebt (Ich weiß, ich übertreibe, aber wir wissen ja, wie’s gemeint ist.), ist in meinen Augen kein Zuwachs, sondern ein Minus an Gerechtigkeit.
Genausogut könnte man mir ein Gnadenrecht zugestehen, oder Kermit dem Frosch.
Wenn eine Strafe angemessen ist, sollte sie nicht aufgehoben werden, und wenn sie es nicht ist, dann sollte die Entscheidung darüber in einem rechtsstaatlich geschaffenen und organisierten Verfahren ablaufen, nicht nach dem Gutdünken eines halbdemokratisch gewählten Monarchen.
(Weißt du eigentlich, dass diese Captchas ein echtes Hindernis sind? Ich habe schon leichtere Rätsel bei Professor Layton bearbeitet.)