Gestern durften wir einen neuen Evolutionssprung bei Twitter beobachten:
glad to see Twitter has moved from where we get our news to where we base our theology
Twitters trending topics wurden angeführt von »no god«. Dazu kam es, nachdem @RevRunWisdom einen Besinnungsspruch getwittert hatte: »Know God… Know Peace. No God.. No Peace!.« [sic!] Meine erste Reaktion war, das unter die beliebte Argumentationsfigur einzuordnen, daß es keine Moral ohne Gott gebe und damit den Sinnspruch als Kitsch zu verwerfen. (In einem anderen Artikel habe ich mich damit auseinandergesetzt.) Nach etwas längerem Nachdenken bin ich zu dem Schluß gekommen: Da steckt mehr dahinter.
Die oberflächliche Argumentation ist in der Tat problematisch: Natürlich kann es »ohne Gott« Frieden geben, auf mehreren Ebenen sogar. Wenn es keinen Gott gibt, spricht doch nichts dagegen (da der Mensch moralische Prinzipien ausgebildet hat), daß ein Zustand der Abwesenheit von Krieg bestehen kann. Wenn es einen Gott gibt, moralische Grundsätze aber ohne einen Rekurs auf ihn erkennbar sind, kann es aus dem gleichen Grund Frieden geben. Bleibt die Behauptung: Allein Gott kann verbürgen, daß es Frieden gibt, und sei es in der Form, daß moralische Prinzipien nicht ohne einen Rekurs auf ein Glauben erkennbar sind – für die moralische Autonomie und Urteilsfähigkeit des Menschen wäre das verheerend. Wenn Gott gar eingreifen muß, damit es zu Frieden kommt, sind wir im schlimmsten Theodizeeproblem: Warum greift Gott nicht überall ein, wo kein Friede ist?
Diese oberflächliche Deutung dürfte also erledigt sein. Tiefgreifender wird es, wenn man sich fragt, was denn gemeint ist mit »Frieden«? Abwesenheit von Krieg und Bedrängnis läßt sich auch säkular erreichen, umgekehrt ist Friede nicht notwendig das Ergebnis davon, Gott zu kennen: jeder gottlosen Grausamkeit kann man eine Grausamkeit im Namen Gottes entgegenstellen. (Die billige Ausrede, daß diejenigen eben Gott nicht richtig kennen, sei außen vor.) »Frieden« theologisch verstanden ist mehr: Nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch »Heil«.
Frieden wird hier nicht in der Bedeutung »Waffenstillstand« angesprochen, sondern in einer Bedeutung, die der säkularen Idee des Rechtsfriedens gleichkommt. Die Wikipedia beschreibt das wunderbar unenzyklopädisch:
Rechtsfrieden herrscht, wenn es keinen Anlass für Rechtsstreitigkeiten mehr gibt, wenn die Waage der Justitia austariert ist für die Vielzahl aller Partnerschaften eines größeren Verbundes von Rechtsinhabern.
Frieden als das Ideal einer allgemeinen Versöhnung, eines allgemeinen Verzeihens. Und dann kommt Gott ins Spiel. Oder vielmehr: Die Unmöglichkeit für den Menschen, diesen Frieden zu erreichen. Bei den alten Griechen noch wurde das Böse mit ἄγνοια, mit Nichtwissen, mit einem unzureichenden Wissen erklärt: Niemand tue willentlich das Schlechte, also liegt dem Bösen immer eine mangelnde Einsicht zu Grunde. Heute sind wir pessimistischer: Wir sehen, daß Böses auch willentlich getan wird. Damit einher geht die Unerbittlichkeit von Freiheit, Verantwortung und Schuld. Was getan ist, ist getan, und kann nicht wieder gutgemacht werden. Aus dieser Warte bezeichnet Hannah Arendt dann auch Verzeihen als Hybris, da es das Vergangene ungeschehen machen will.
Auf die Spitze treibt dieses Problem ein bekannter Disput zwischen Vladimir Jankélévitch und Jacques Derrida. Jankélévitch konnte den Deutschen nicht verzeihen für das, was sie den Juden angetan haben. Verständlich: Wie sollte man den Holocaust verzeihen können? Wenn es etwas Unverzeihliches gibt, dann doch das! Derrida hat gerade dort angesetzt. Es ist selbstverständlich, das einfach Verzeihbare zu verzeihen. Ein verpaßter Termin, ein versehentlich umgestoßenes Glas, eine Beleidigung im Affekt – all das nicht zu verzeihen, wäre geradezu widersinnig. Verzeihen wird also erst dort wirkliches Verzeihen, wo es darum geht, das Unverzeihliche zu verzeihen. Pardoner l’impardonnable.
Verzeihen – und damit Frieden – ist damit ein Paradox. Um den Rechtsfrieden einer allgemeinen Versöhnung herzustellen, muß dieses Paradox aufgebrochen werden. »Nur noch ein Gott kann uns retten.« (Heidegger. In anderem Kontext, und dennoch paßt das ganze Zitat.)
Leider ist das kein Gottesbeweis. Wenn man eine wirkliche Aussöhnung aller verlangt (und nicht einfach mit Nietzsche alles, was ist, vorbehaltlos bejahen will, oder mit Camus seinen Sinn im dauernden Aufbegehren gegen das Absurde findet), bleibt nur das Hoffen auf einen Gott.
Auch aus christlicher Perspektive ist das Verzeihen die eigentliche Provokation des Glaubens: Einfach nur naiv anzunehmen, daß wir ja alle, alle in den Himmel kommen, ist zu einfach: Das wird der menschlichen Freiheit und Verantwortung nicht gerecht. (Dennoch: Nicht darauf zu hoffen, daß alle in den Himmel kommen, ist wohl eine Sünde gegen den Heiligen Geist.) Versöhnung braucht nicht nur Gott, sondern, will sie der menschlichen Freiheit gerecht werden, auch die betroffenen Menschen. Und es wird noch schlimmer: Kann es wahre Erlösung geben, wenn man darum weiß, daß ein anderer nicht erlöst ist? Gestern bei Twitter:
Nonne in der ARD: Auch ein Hitler ist im Himmel. #maischberger #aua // Frage: Macht Religion komplett doof? (FMR via Twitter)
Religion macht nicht komplett doof. Religion heißt hier, auf die Versöhnung aller zu hoffen, auch der Unversöhnbaren. Dieses Paradox aufbrechen vermag nur Gott. »Frieden kennen« heißt dann tatsächlich »Gott kennen«.
(Eine Nebenwirkung hatte »no god« in den trending topics. Tolstoi bemerkte in seinen Tagebüchern: »Wenn die Vertreter der Kirche Christen sind, dann bin ich kein Christ; und umgekehrt.« Wenn man liest, wie Christen darauf reagieren, wird das umso plausibler.)
Ich würde sagen, Du interpretierst den Spruch von @RevRunWisdom eher, als hätte er gesagt »Know Peace… Know God. No Peace… No God!«. Ich würde, als jemand der nicht unbedingt in christlicher Terminologie denkt, den Frieden eher als inneren Frieden bezeichnen, nicht als Rechtsfrieden. Das Wort Rechtsfrieden kann ich nur mit dem Intellekt verstehen und ich denke, dass Frieden noch etwas mehr ist als Rechtsfrieden. Hermann Hesse beschreibt das etwa mit: „wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte“.
Wenn ich jedenfalls den Frieden kenne, dieses einzige Wort vernommen habe, dann kenne ich wenigstens ein Teil dessen, was Du Gott nennen magst. Wenn ich dieses Friedensgefühl nicht kenne, dann gibt es diesen Teil von Gott auch nicht für mich.