Als ich zum ersten Mal gelesen hatte, daß Wolfgang Thierse an einer Sitzblockade gegen die Nazidemo am 1. Mai teilgenommen hat, fand ich das gut. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verzwickter scheint mir aber der Fall zu sein. Einfach nur einen strikten Rechtspositivismus gegen Thierse oder die guten Absichten aller für Thierse ins Feld zu führen, ist mir zu einfach.
Das Spannungsfeld, das diesen Fall so interessant macht, ist der Interessenskonflikt zwischen Thierse als Bürger und Thierse als Repräsentant eines Verfassungsorgans, auf die Spitze getrieben in der Frage: Ist ziviler Ungehorsam des Staates gegen sich selbst möglich, zulässig?
Die Legitimität von zivilem Ungehorsam ist in der Theorie gut begründet. Die Notwendigkeit für zivilen Widerstand entsteht immer dann, wenn die Anwendung positiven Rechts als ungerecht empfunden wird. Nach Hannah Arendt unterscheidet sich ziviler Ungehorsam von Verbrechen dadurch, daß er nicht aus Eigennutz unternommen wird und gewaltfrei bleibt; das Ziel zivilen Ungehorsams ist nicht der Umsturz eines politischen Systems, sondern die Beseitigung eines Mißstandes innerhalb des Systems. Bei Arendt geht es (in »Civil Disobedience«) nur um Widerstand gegen ungerechte Gesetze und Handlungen des Staates; von zivilem Widerstand, wie er bei einer Sitzblockade gegen eine Nazidemonstration angewandt wird, handelt er nicht. John Rawls (»The Justification of Civil Disobedience«) faßt zivilen Ungehorsam weiter: Er richtet sich gegen konkrete schwerwiegende Ungerechtigkeiten, gegen die eine legale Einflußnahme nicht mehr möglich ist. In den Mitteln muß der Ungehorsam sich auf solche beschränken, die die Prinzipien Verfassungsordnung nicht gefährden.
Damit läßt sich eine Sitzblockade gegen Nazis besser fassen. In der Genehmigung von Demonstrationen von Feinden der verfassungsgemäßen Ordnung ist der freiheitliche Rechtsstaat in einem Dilemma: Als freiheitlicher Rechtsstaat muß er Grundrechte auch seinen Gegnern gewähren. Das positive Recht, die Versammlungsfreiheit, ist in diesem Fall also nicht ungerecht; ungerecht wäre es, staatlicherseits Demonstrationen nach ihren Inhalten zu sortieren.
Dennoch ist der Staat um seiner grundlegenden freiheitlichen Verfaßtheit willen darauf angewiesen, daß Nazis keine Meinungsführerschaft haben, muß aber Meinungs- und Demonstrationsfreiheit schützen: Damit der Staat freiheitlich sein kann, muß er neutral sein, aber auch von Bürgern getragen werden, die nicht neutral sind, sondern für Rechtsstaatlichkeit einstehen. Der Staat kann, so Böckenförde, »diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.«
Das ist ein weiterer Anwendungsfall des Böckenförde-Paradoxes, nachdem der freiheitliche Staat auf Grundlagen angewiesen ist, die er selbst nicht zur Verfügung stellen kann. Auch Habermas sieht dieses Paradox und wendet es auf den Fall zivilen Ungehorsams an:
Mit dieser Idee eines nichtinstitutionalisierbaren Mißtrauens gegen sich selbst ragt der Rechtsstaat über das Ensemble seiner jeweils positiv gesetzten Ordnungen hinaus. Das Paradox findet seine Auflösung in einer politischen Kultur, die die Bürgerinnen und Bürger mit der Sensibilität, mit dem Maß an Urteilskraft und Risikobereitschaft ausstattet, welches in Übergangs- und Ausnahmesituationen nötig ist, um legale Verletzungen der Legitimität zu erkennen und um notfalls aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.
(Jürgen Habermas: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt 1996, S. 87)
Die Demonstration von Nazis ist so eine legale Verletzung der Legitimität, und gerade um des freiheitlichen Rechtsstaats willen sind hier Gegenmaßnahmen nötig.
Der Einwand liegt nahe, daß eine Nazidemonstration ja niemandem schade, jedenfalls nicht mehr als jeder andere politische oder unpolitische Aufzug auch, und daß es mildere Mittel wie legale Gegendemonstrationen gibt. Demonstrationen sind aber ein Kampf um Öffentlichkeit: Demonstrationen demonstrieren übereinstimmende Meinung, wollen die von Böckenförde angesprochene »moralische[] Substanz des einzelnen und […] Homogenität der Gesellschaft« zur Schau stellen. (In der Wahlkampfforschung zeigt es sich, daß die Wirkung von Wahlplakaten nicht ist, Menschen von einer anderen Meinung zu überzeugen, sondern Unentschlossenen und der Stammwählerschaft Präsenz und Stärke zu vermitteln. Der Erfolg rechter Parteien im Osten liegt auch daran, daß sie erfolgreich einen hegemonialen Eindruck vermitteln, etwa über eine flächendeckende Plakatierung dort, wo keine andere Partei plakatiert.) Deshalb ist es eine demokratische Notwendigkeit, sich gegen Nazidemonstrationen zu stellen, und ich tendiere auch dazu, hier illegale Sitzblockaden für legitim zu halten.
Wolfgang Thierse selbst hat sich selbst so erklärt: »Die Beamten erfüllen ihre polizeiliche Pflicht und wir Demonstranten tun unsere staatsbürgerliche Pflicht.« So läßt sich meine Position oben auch auf den Punkt bringen. Was die Sache für mich problematisch macht, ist der Konflikt zwischen Thierse als Bürger und als Repräsentant des Staats, zumal er nur durch seinen Abgeordnetenabweis durch die Sperren gelassen wurde, also durch ein Privileg, das ihm in seiner Funktion als Teil eines Staatsorgans zukommt.
Parteien wirken an Willensbildung des Volkes mit, und es wäre absurd, wenn mit einem Mandat politische Äußerungsfähigkeit beschnitten würde, wenn geringere Ansprüche an die Zivilcourage eines Abgeordneten gestellt würden, und schließlich bedeutet ein Abgeordnetenmandat ja, daß gerade Staatsbürger repräsentiert werden.
Thierse als Bundestagsvizepräsident repräsentiert aber zusätzlich ein Staatsorgan; für den Staat (der ja immer nur durch Repräsentanten handeln kann), will er Rechtsstaat sein, ist eine strikte Bindung an das positive Recht notwendig. In einem anderen Artikel habe ich das so formuliert:
Rechtsbruch des Staates kategorisch abzulehnen heißt, eine Beschränkung der totalen Macht auf das Recht einzufordern. Die prinzipiell unbegrenzte Macht des Staates wird begrenzt durch einen unbegrenzten Anspruch auf Legalität seines Handelns.
[…]
»Formalismus« und »Legalismus« tragen dem Grundsatz Rechnung, daß das geschriebene Recht ein Werkzeug ist, um die Macht des Staates wirksam zu binden; indem die formalen Grundsätze der Rechtssetzung akzeptiert werden, wird es möglich, objektiv eine Rechtsverletzung des Staates festzustellen.
Da immer Repräsentanten für den Staat handeln, die selbst Bürger sind, führt das in ein Dilemma: Eine Lösung wäre die strikte politische Neutralitätspflicht aller Beamten und sonstigen für den Staat handelnden. Das ist aber nicht mit einem Menschenbild zu vereinen, das politische Teilhabe nicht einfach als Privileg betrachtet, sondern als Menschenrecht erkennt. Lösen kann man dieses Dilemma wohl nur, indem die hoheitlichen Privilegien vom bürgerlichen Handeln getrennt werden.
Mein vorläufiger Schluß: Ziviler Ungehorsam ist auch für einen Bundestagsvizepräsidenten legitim. Solange er dafür nicht seine staatlichen Privilegien benutzt.
Danke erstmal für diese ausgewogene Analyse.
Ich finde auch, dass Thierse nicht legal, aber legitim gehandelt hat.
Und was mir in der ganzen Diskussion leider immer wieder unterzugehen scheint ist die Tatsache, dass auch eine Blockade eine Demonstration ist, die ebenso schützenswert ist. Meinungsfreiheit heißt meines Erachtens nicht nicht, dass man alles unwidersprochen kundtun kann. So gesehen ist eine Blockade eine Art des Wiederwortegebens, solange es friedlich bleibt.
Mit diesem Argument habe ich deshalb nicht argumentiert, weil ich darin keine Lösung des Problems sehe: Wenn zwei Gruppen ihre Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollen, dann braucht es den Staat, der zwischen den widerstreitenden Interessen vermittelt; Grundrechte finden ihre Schranke ja in der Ausübung der Grundrechten durch andere. Dafür gibt es bereits im Versammlungsrecht Lösungen: Dann gibt es eben zwei getrennte Demorouten. Aus neutraler staatlicher Sicht läßt sich das nicht kritisieren, erst eine Erwägung der Legitimitätskriterien scheint mir den Knoten zum Platzen zu bringen.
Ich hätte es besser gefunden, Herr Thierse hätte hunderte SPD-Mitglieder dazu gebracht mit ihm die offiziellen Gegenveranstaltungen zu besuchen. So bezöge man auch Stellung, kommt aber nicht ins Fernsehen.
Ob irgendwelche „Charity“ oder eben solche Aktionen Prominenter, ich halte das primär für Eigennützig und stehe dem extrem skeptisch gegenüber.
So einen Charity-Gedanken kann man allein mit Eigennutz, Eitelkeit, Geltungssucht erklären. Mir ist hier aber eine im besten Sinne bürgerliche Sicht wichtig: Daß aus Einfluß, Macht, Reichtum usw. eine moralische Verpflichtung erwächst. Gerade ein Politiker, der als Mitglied einer Partei eben auch dazu aufgerufen ist, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, hat eine solche Verantwortung. Wieder mit Böckenförde argumentiert: Da der Staat selbst nicht bürgerliche Tugenden einfordern und befördern kann, liegt es in der Verantwortung demokratischer Bürger, zu diesen Werten beizutragen.
Ob Thierse alles richtig gemacht hat, ob er anders sinnvoller agiert hätte, ob er die Öffentlichkeit einkalkuliert, gesucht, provoziert hat: All das weiß ich nicht. Ich unterstelle ihm aber zunächst einmal wohlwollend, daß es ihm um dieses bürgerliche Ethos ging und nicht um Eigennütziges.
wir waren Hunderte, das versichere ich Ihnen…
34 Mitglieder der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus gehörten zudem zu den Erstunterzeichnern der Bündnisaufrufe…
Ein sensibles und leider ziemlich vertracktes Thema. Ich bin kein großer Jurist, jedoch möchte ich 2 GG Artikel zitieren und in diesem Kontext zur Diskussion stellen:
Art. 18:
Wer die Freiheit der Meinungsäußerung[…] und die Versammlungsfreiheit zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte.
Art.20:
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Letztendlich bleibt mir nur zu sagen, dass (freie) Bildung Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft ist und wahrscheinlich der einzige, wenn auch steinige, Weg dieses Unrecht zu beseitigen.
was mir hier fehlt in der sonst so wohltuend bedenkenden reflexion ist der aspekt, dass thierse ja beides ist, staatsbürger und repräsentant eines staatsorgans. oder sollt ich eher sagen, repräsentant eines staatsorgans und auch „privatperson“.
jetzt gibt es wohl kontexte, in denen diese ambivalenz irrelevant sein mag; aber sicherlich auch kontexte, in denen der unterschied ganz klar und banal auf der hand liegt.
geschenkannahme wird klar in die richtung gehen: hier ist es irrelevant, dass der repräsentant auch „irgendwo“ privatperson ist. diese privatperson „staatsdiener“ darf sich „private“ vorteile einfach nicht leisten.
umgekehrt gibt es sicher jede menge kontexte, wo eine verknüpfung zur repräsentanz lächerlich weit hergeholt wäre.
ein besuch im urlaub in einem zirkus. der ausdruck der meinung, dass dieses theaterstück gut und jene andere inszenierung eine frechheit ist. …
die trennlinien sind sicherlich oft schwierig zu ziehen: das statement, dass frauen hinter den herd gehörten in einer fernseh-talkshow?
(nicht nur widerlich chauvinistisch sondern verfassungsgrundsätzen widerprechend)
und ändert der aspekt, dass es sich um verwaltungsübertretungen handelt oder handeln könnte automatisch etwas daran?
ich denke nicht.
Ich seh die Sache so:
Wenn wir nach obigem Habermas-Zitat gehen, ist, um einen wirklichen Rechtsstaat aufrecht zu erhalten, ziviler Ungehorsam nicht nur Recht, sondern im jeweiligen Fall auch Bürgerpflicht. Und diese Pflicht umfasst eben alle Mittel, solange sie nicht eigennützig sind und niemand anderem schaden. Und dazu gehört auch der Einsatz eines Privilegs, das Herr Thierse ja nicht als \Staatsorgan\ bekommen hat, sondern als Abgeordneter, dessen Aufgabe es geradezu ist, politisch Stellung zu beziehen, anders als bei Ordnungsämtern oder der Polizei, die zum rechtsstaatlichen funktionieren tatsächlich auf die positive Rechtssetzung angewiesen sind.
Allerdings muss man auch bei diesen Einrichtungen fragen, ob eine Vermischung von Amt und Person in Fragen der Pflicht zum zivilen Ungehorsam überhaupt gerechtfertigt ist. In manchen Fällen kann m.A. nach auch der Einsatz staatlicher Privilegien gerechtfertigt sein, ansonsten würde das Prinzip zivilen Ungehorsams, nämlich tatsächlicher Widerstand gegen Recht oder Aktionen des Staates, keinen Sinn machen. Die Person müsste halt mit entsprechenden Sanktionen rechnen. Wobei eben immer beachtet werden muss, dass die Person nicht im Namen des Staates, sondern eben als Person handelt…
Sehr vorsichtig und wohldurchdachte Analyse, gefällt mir sehr gut.
Ich für meinen Teil möchte den von Kloppo² angeführten Art. des GG folgen und sagen, Herr Thierse hat meiner Ansicht nach das absolut richtige getan.
Darüber hinaus möchte ich noch erwähnen, dass es mir kalt den Rücken hinunter läuft, wenn ich lesen muss das sowohl DPolG und GdP (Deutsche Polizei Gewerkschaft und Gewerkschaft der Polizei), den Rücktritt von Thierse fordern. Denn diese sind im Gegensatz zu Herrn Thierse eben keine Privatpersonen.
Wehret den Anfängen…