Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, daß einem muslimischen Schüler das Beten in der Schule nicht gestattet werden darf, um die Neutralität der Schule zu gewährleisten, stellt einen staatlichen Übergriff dar: Nicht einfach nur in die Religionsfreiheit. Das Problem liegt tiefer: An die Stelle eines Staatsverständnisses, das Freiheiten auch im Konfliktfall zu sichern und zu ertragen weiß, der Staat dabei aber neutral ist, tritt ein Staatsverständnis, in dem der Staat seine Bürger zur Neutralität zwingt.
Bereits auf der Ebene der Religionsfreiheit ist das Urteil problematisch: Die Berliner Strategie einer »Befriedung durch Neutralität« verdeckt Probleme, anstatt daß es sie aufgreift und angeht. (Und weitergehend: Was heißt das für die gesellschafts- und staatstragende Funktion von Wertquellen wie Glaubensgemeinschaften? Will man auf die Bindungskräfte von gemeinschaftsstiftenden Faktoren wie Religion verzichten? Glaubt man, daß diese Bindungskräfte per Saldo negativ sind, daß die möglichen Ausschlüsse schwerer wiegen als die den Menschen vermittelte Sinnperspektive und Gemeinschaftsbezug?)
Weiter wird argumentiert, das rituelle Gebet berge »Konfliktpotenzial«, es sei eine »Gefährdung des Schulfriedens«, auf die Spitze getrieben (zitiert aus dem Welt-Artikel zum Thema):
»Das islamische Ritualgebet hat Demonstrationscharakter und dient auch der sozialen Kontrolle«, weshalb es in der Schule abzulehnen sei, erklärte in der Verhandlung der zuständige Abteilungsleiter der Senatsbildungsverwaltung, Ludger Pieper.
Selbst wenn die Unterstellung einer »sozialen Kontrolle« stimmt – wie läßt es sich mit dieser Argumentation verbinden, daß es christliche Rituale mit Demonstrationscharakter gibt – daß eine Fronleichnamsprozession im öffentlichen Raum stattfindet, geordnet und geschützt durch Polizei und Feuerwehr? Das ist nicht an der Schule. Aber werden Menschen, sobald sie ein Schulgebäude betreten, völlig neutral? Was bleibt, wenn alles, was religiös, politisch, ästhetisch oder wie auch immer demonstrativ interpretiert werden kann, an der Schultür abgegeben werden muß? Dabei gehören gerade solche Entscheidungen auch zur immerhin grundgesetzlich garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit. (Und wo sind die Grenzen, und wer entscheidet darüber, ob dieses oder jenes Band-T-Shirt einen unzulässigen Demonstrationscharakter hat? Zudem: Es gibt kein right not to be offended; Maßstab einer Abwägung von Grundrechten kann nicht eine beliebig niedrig setzbare Empörungsschwelle sein.)
»Befriedung durch Neutralität« erzeugt einen schalen Frieden. Mit Toleranz hat das nichts zu tun. »Toleranz« heißt »Duldung«: »Du bist anders, ich lehne das für mich ab, ich ertrage es aber.« »Befriedung durch Neutralität« legt einen Deckel auf den Topf mit brodelndem Wasser. Man sieht es nicht mehr brodeln, aber irgendwann fliegt einem der Deckel um die Ohren.
Der zweite grundsätzliche Aspekt des Problems ist tiefgreifender. Was nämlich nicht diskutiert wird: die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Der Fokus auf die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion ist verständlich aus einer historischen Perspektive:
Sieht man von den durch staatskirchenrechtliche Verträge (und als Kompensationsleistungen für die Säkularisation) festgeschriebenen kirchlichen Privilegien ab (wie Kirchensteuer oder staatliche Bekenntnisschulen), ist das deutsche Modell eines kooperativen Verhältnisses von Kirche und Staat eigentlich nur etwas besonderes in Abgrenzung zum Modell einer totalen Laizität, wie es sie in Frankreich gibt.
Die Kirche, Religionsgemeinschaften allgemein, sind Teil der Gesellschaft und sollten aus Staatssicht behandelt werden wie andere Teile der Gesellschaft (Verbände, Vereine, spontane Zusammenschlüsse …). Es ist selbstverständlich, daß der Staat mit anderen gesellschaftlichen Akteuren kooperiert. Daß die Trennung von Kirche und Staat als etwas besonderes gesehen wird, ist eine historische Entwicklung. Sie war nötig wegen der engen Verquickung von geistlicher und weltlicher Macht, von Staat und Kirche. Sie war nötig, weil beide Machtordnungen grundsätzlich eine übergreifende Kompetenz einfordern: Der Staat als die ultimative Entscheidungsinstanz, die Kirche als Stellvertretung der göttlichen Vollmacht. Zwei Machtsysteme, die jeweils die Kompetenzkompetenz für sich reklamierten. (Relikte davon sind immer noch die Konkordate, die wie völkerrechtliche Verträge geschlossen werden.)
Dabei kommt aber der Aspekt außer acht, daß Religion der gesellschaftlichen Sphäre zugehört. Mit dem Argument einer religiösen Neutralität regelt der Staat massiv Teile der Gesellschaft, während andere nicht in gleichem Maße reguliert werden. Sobald etwas religiös konnotiert wird, wird es besonders behandelt. Im Verfassungsblog von Max Steinbeis wird das mit Charles Taylors Ansatz diskutiert:
Beim »diversity model« geht es um etwas vollkommen anderes: Es geht darum, Andersartigkeit in der Gesellschaft zu managen. Es geht um Gewissensfreiheit, um Gleichbehandlung aller Überzeugungen und um das gleiche Recht für alle, mit ihren Überzeugungen gehört zu werden. In inhomogenen modernen Gesellschaften muss ein s[ä]kularer Staat dafür sorgen, dass diese drei Rechte für alle gewahrt bleiben.
Das hat laut Taylor relativ wenig mit Religion zu tun: Angenommen, ein Häftling verweigert die Gefängniskost, weil er kein Fleisch essen will – spielt es dann eine Rolle, ob er das tut, weil er ein Hindu ist oder weil er Peter Singer gelesen hat? Nein, sagt Taylor. Ob religiös motiviert oder nicht, eine in diesem Sinne s[ä]kulare Gesellschaft wird den Gefangenen nicht zwingen, gegen seine Überzeugungen zu handeln.
Das Urteil möchte die Gesellschaft staatlich sanktioniert normativ formen. Natürlich gibt es Eingriffsbefugnisse des Staates: Wenn es um den Schutz von Grundrechten geht, wenn es darum geht, den Rahmen zur Verfügung stellen, um konfligierende Grundrechtsausübung zu regeln. Ein Grundrecht ist das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Dieses Recht ist gerade ein Recht, das auf die Öffentlichkeit zielt; eine Beschränkung auf private (abgetrennte) Räume wird dem nicht in vollem Maß gerecht. Zur Entfaltung der Persönlichkeit gehört es, gerade nicht »alles in der Still’/und wie es sich schicket« tun zu müssen, was die Persönlichkeit ausmacht.
Freiheitlicher Staat kann nur ein Staat sein, der keine Leitkultur vorschreibt. Staat wird von Gesellschaft getragen, nicht umgekehrt. Eine In-eins-Setzung von Staat und Gesellschaft wie eine totale Unterwerfung der Gesellschaft unter den Staat ist totalitär.
Neutralität als Staatsraison ist nicht verkehrt und sogar geboten: der Staat muß in seinem eigenen Handeln neutral sein. Neutralität heißt gerade nicht, die Gesellschaft, die Menschen zu neutralisieren. Denn kein Mensch ist neutral.
Ich sehe das genauso wie du, wunderbar argumentiert. Zumal dieses Urteil selbst demonstrativen Charakter hat. Fast schon lustig finde ich es auch, wenn “Linke” aus einem falsch verstandenen Säkularismus heraus, so ein Staatshandeln gut finden 🙂 Traurig ist natürlich auch, dass sie sich das bei einem muslimischen Gebet trauen. Keine Sorgen mache ich mir hingegen um die Religiosität als solche. Die ist mir sowieso schon seit langem viel zu “demonstrativ”. Beten kann man ohnehin überall, dazu braucht man von niemandem eine Erlaubnis.
Naja, im konkreten Fall scheint es so, dass es erhebliche Konflikte zwischen den verschiedenen Glaubensströmungen gibt; angeblich gab es in der Vergangenheit gewalttätige Vorfälle. Grundsätzlich seh ich das wie du, kann mir aber ein Gebetsverbot vorstellen, wenn Lage so gespannt ist, dass ein halbwegs friedfertiges Zusammenleben unter den SchülerInnen unmöglich wird. Das setzt aber natürlich voraus, dass a) dem tatsächlich so ist und b) sonst keine Maßnahmen möglich und zumutbar sind, um den Schulfrieden zu wahren. Immerhin dürfen ja auch diejenigen ihre Persönlichkeit entfalten, die von Strenggläubigen bedrängt werden. Ein bloßes Gebet, wenn auch noch so demonstrativ, kann zwar grundsätzlich noch keine Verletzung der passiven Religionsfreiheit sein – möglich ist aber, dass das hier im Kontext eines besonders aufgeheizten Klimas doch so ist. Das wird in der Berichterstattung angedeutet, ist aber schwer zu beurteilen, ob das so auch stimmt. Im Einzelfall könnte ich dem Urteil daher etwas abgewinnen; als Grundsatz, wie mit Religion an Schulen staatlicherseits umzugehen ist, sicherlich nicht.
Auch im Einzelfall finde ich das problematisch, da es als Urteil gesprochen wurde. Im Einzelfall mag es Situationen geben, bei denen ein Verbot von demonstrativ religiösem Verhalten kurzfristig nötig ist. Das scheint mir aber eher eine polizeiliche oder hausrechtliche Maßnahme erforderlich zu machen. Das Problem liegt ja tiefer, und es ist gerade im Rahmen der Schule ein pädagogisch zu lösendes: Wie kann die Schule ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden und das Erziehungsziel Toleranz erreichen?