Deutschland unterm Kreuz

Aygül Özkan, designierte Sozialministerin in Niedersachsen, steht für einen säkularen freiheitlichen Staat auf dem Boden des Grundgesetzes. Ganz im Gegensatz zu ihrer Partei, der CDU. Ich hoffe, daß es Rückgrat und nicht Naivität ist, daß sie sich so offen gegen den CDU-Mainstream stellt, indem sie sich gegen religiöse Symbole in Klassenräumen ausspricht. Die Süddeutsche kommentiert sehr treffend: »Keiner konnte ahnen, dass die 38-jährige Aygül Özkan einen eigenen Kopf hat, den sie dummerweise auch noch einschaltet.«

Die lebhafte Debatte spült den gerechten Volkszorn der christdemokratischen Alpenayatollas und Deichmullahs nach oben. Geprägt ist die Position weiter Teile der CDU von einem völlig verfehlten Verständnis von Öffentlichkeit und Religionsfreiheit – aber auch einer Geringschätzung des Glutkerns des christlichen, eben Christus und seinem Tod am Kreuz.

Symptomatisch für die Debatte ist die Behauptung, daß mit einer Forderung nach kreuzfreien Klassenräumen »Religion aus dem öffentlichen Raum verbannt« werden solle. Darin zeigt sich bereits ein illiberales Weltbild: Staatlich kontrollierter Raum wird gleichgesetzt mit der Öffentlichkeit. Öffentlichkeit hat aber mehrere Dimensionen. Öffentlichkeit bezeichnet zum einen den nicht-privaten Raum. Straßen und Plätze, Wälder und Parks, übertragen auch das Internet. Im öffentlichen Raum bewegen sich Menschen als Gleiche. Ihre Freiheiten werden durch die Freiheit des anderen begrenzt, und andere haben zu tolerieren, daß jemand von einer Freiheit auch Gebrauch macht. Öffentlichkeit bezeichnet aber auch den staatlichen Raum in Abgrenzung zum privaten. Der Staat hat öffentlich, also transparent und nachvollziehbar, zu sein. Der freiheitliche demokratische Staat ist öffentlich, weil in ihm das, was alle angeht, auch von allen entschieden werden soll. Staat und Bürger begegnen einander nicht als Gleiche. Der Staat muß seine potentiell totale Macht begrenzen durch Recht und Gesetz und durch Grundrechte. Die Gleichheit seiner Bürger kann er nur gewährleisten, wenn er selbst neutral ist.

Wenn der Staat nicht neutral ist, etwa indem er bestimmten Religionen Privilegien einräumt, die andere nicht haben, ist er nicht mehr neutral und verletzt die Religionsfreiheit. Das ist leider in Deutschland der Fall, und seit dem Kirchenpapier der FDP von 1974 (das aber dort längst nicht mehr Beschlußlage ist) vertritt auch keine Partei mehr echte Religionsfreiheit.

Religionsfreiheit hat zwei Dimensionen: positive und negative. Positive Religionsfreiheit bedeutet, daß die Religionsausübung von einzelnen und Glaubensgemeinschaften (im Rahmen der Grundrechte) frei ist. Sie bedeutet aber gerade nicht, daß der Staat sich zu Religionen bekennen darf – zum Beispiel durch Kreuze im Klassenzimmer. Das ist eine Dimension von negativer Religionsfreiheit: der Staat darf sich nicht religiös betätigen, äußern, Partei ergreifen. Eingreifen in die Religionsausübung darf er nur, um andere Rechtsgüter zu schützen. Negative Religionsfreiheit bedeutet nicht das Recht darauf, von Religion unbehelligt zu bleiben. Kreuze, Kopftücher, Kirchen und Moscheen müssen in der Öffentlichkeit ertragen werden, so wie atheistische T-Shirts und kirchenkritische Schriften ertragen werden müssen. (Das Schweizer Minarettverbot ist daher illegitim und wäre in Deutschland verfassungswidrig.) Religion hat aus liberaler Sicht Privatsache zu sein – das heißt aber nur, daß sie nicht Sache des Staates sein darf.

Besonders apart ist die Position der Union, wenn das Christentum als Staatsideologie mißbraucht wird:

[…] Thomas Goppel empfahl der Deutsch-Türkin ein Studium des Grundgesetzes. Dieses sei […] nach der Nazi-Barbarei mit ausdrücklicher Rückbesinnung auf das christliche Menschenbild verabschiedet worden.

Wenn es Goppel ernst meinen würde mit seinem Verweis aufs Grundgesetz, hätte er das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts genauer lesen sollen, das die Neutralität des Staates ausführt – letzten Endes auch um der Religionsfreiheit und letztlich der Religion willen. Natürlich sagt das Menschenbild des Grundgesetzes mit seiner Würde-Bindung säkularisiert dasselbe aus wie das christliche Menschenbild. Die Idee Menschenwürde trägt aber auch ohne eine religiöse Begründung, und wenn Christen die Naturrechtslehre (also die Einsichtsfähigkeit der menschlichen Vernunft in moralische Prinzipien) ernstnehmen, müssen sie das auch zugeben. Zum christlichen wie zum grundgesetzlichen Menschenbild gehören wesentlich die Gewissensfreiheit (und daraus abgeleitet die Religionsfreiheit): Ohne einen säkularen Staat kann es keine echte Religionsfreiheit geben.

Was an Özkans Aussage zu diskutieren wäre, ist ihre strenge Auslegung des Säkularismus: Darf man muslimischen Lehrerinnen (die Beamtinnen sind) wirklich das Kopftuch verbieten? Was sticht hier? Die positive Religionsfreiheit der Lehrerin (ein Kopftuch zu tragen), oder die negative der Schüler (denen die Lehrerin als Beamtin und damit als Vertreterin des Staates gegenüber tritt)? (Das Bundesverfassungsgericht hat das natürlich diskutiert.) Die Union ist aber an dieser Differenzierung nicht interessiert. Die völlig selbstverständliche Vereinnahmung des Christentums als Staatsreligion und die Ablehnung eines neutralen Staates lassen sie die Frage erst gar nicht stellen, müßte dann doch auch diskutiert werden, ob Beamte im Dienst Kreuze tragen dürfen. Verschärft wird das, wenn der Habit von Ordensleuten erlaubt sein soll (auch Schleier, auch an staatlichen Schulen, auch in anderen Fächern als dem vom Grundgesetz privilegierten Religionsunterricht) und wilde argumentatorische Stunts unternommen werden, die das zu einer areligiösen »Berufskleidung« uminterpretieren wollen. Die Haltung der Union ist geprägt von einer Arroganz gerade dem Grundgesetz gegenüber, wenn weiterhin Kreuze in Klassenzimmern hängen und das Bundesverfassungsgericht wie die damaligen Beschwerdeführenden durch windige Widerspruchsregelungen verhöhnen.

Was Rechtspopulisten dem Islam vorwerfen, nämlich daß andere Religionen zwar geduldet werden, aber ihre Gläubigen als Dhimmi Menschen zweiter Klasse seien, fordert die Union. Paternalistisch wird allen das Christentum als Normalfall und Norm übergestülpt. CDU-Generalsekretär Gröhe dekretiert »Kein Kind wird dadurch bedrängt« – als ob es in der Kompetenz des Mächtigen wäre, huldvoll festzustellen, wer sich wie fühlen darf und wer wann seine Religionsfreiheit ausüben möchte. Aber: »Das Kreuz ist aus Sicht der CDU ein Symbol der Toleranz auch gegenüber anderen Religionen«, behauptet der niedersächsische CDU-Fraktionsvorsitzende David McAllister, als hätte es nie Unterdrückung und Zwangschristianisierung unter diesem Zeichen gegeben, als wäre christliche Judenmission keine offene Wunde mehr. Wie immer schießt Martin Lohmann vom »Arbeitskreis Engagierter Katholiken« den Vogel ab: »Das Kreuz ist auch ein Freiheitssymbol für alle Menschen.« Das sollte es sein. Die Wahl des eigenen Freiheitssymbols muß aber jedem selbst überlassen bleiben – erst recht, wenn etwa unter dem staatlich dekretierten Freiheitssymbol die Liebe zwischen Homosexuellen als pervers diffamiert wird, wenn Heimkinder geschlagen und Schulkinder mißbraucht wurden und diesen Mißbrauch mit dem dekretierten Freiheitssymbol verbinden müssen.

Um die Religion geht es der Union nur vordergründig: Das Kreuz ist für sie nur eine kulturelle Chiffre. Lohmann führt das so aus:

Das Kreuz als Zeichen der Erlösung ist kein beliebiges Schmuckstück. Es ist als heiliges Symbol Teil unserer christlich-abendländischen Kultur. Es steht für Freiheit, Verantwortung und christliches Menschenbild. Dazu gehört nicht nur die Gleichberechtigung von Mann und Frau, sondern auch die unteilbare Unantastbarkeit der Würde des Menschen.

Das mag jeder Christ gerne so sehen, und ich selbst tue es auch. Indem aber der Staat sich dieses Symbols bemächtigt, wird es entwertet und reduziert auf eine funktionale Rolle. (Dazu, auch in Sachen Kreuz, ausführlich in meinem Artikel Rückzugsgefechte gegen die Welt zum Kruzifix-Urteil des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.) Die kulturelle Argumentation führt auf eine schiefe Ebene: Warum nicht der Davidsstern im Klassenzimmer, wenn die jüdisch-christlichen Werte immer beschworen werden? Warum nicht der Halbmond als Symbol in Klassenzimmer? Andalusien, unzweifelhaft Teil Europas, ist islamisches Stammland. Hätten islamische Philosophen wie Ibn Ruschd, Al-Farabi und Ibn Sina nicht Aristoteles über die dunkle Zeit gerettet, wäre es mit der intellektuellen Basis des Abendlandes (und des Christentums nach Albertus Magnus) auch nicht weit her. (Schließlich: Wenn das Kreuz nur ein kulturelles Symbol ist – warum soll es dann unter den von seinen konservativen Freunden so geschätzten Gotteslästerungs-Paragraphen 166 fallen?)

Auch für »Wertkonservative« sollte einsichtig sein (wenn sie auf dem Boden des freiheitlichen Rechtsstaats stehen), daß der Säkularismus ein zentraler Wert ist – gerade dann, wenn man für Religionsfreiheit Partei ergreifen will: Alle Freiheiten, und gerade die Religionsfreiheit, mußten gegen eine Allianz aus weltlicher und kirchlicher Obrigkeit erkämpft werden. Wenn man schon kulturelle staatstragende Symbole im Klassenzimmer will, dann doch bitte säkulare: Die blau-weiß-rote Trikolore, die für Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit steht, und die schwarz-rot-goldene, die für Einigkeit und Recht und Freiheit steht. Oder ganz profan ein Grundgesetz auf jedem Pult.

Anderswo habe ich so geschlossen, und es gilt nicht nur gegenüber Bischöfen, sondern auch gegenüber den Unionsparteien:

Kreuze in der Schule sind ganz profan Ärgernis – und kein Ärgernis, das zu einem vertieften Nachdenken und einem Zugang zum Christentum führt (wie Navid Kermani es in seiner brillaten Betrachtung von Renis Kreuzigung erfahren hat) – sondern ein Ärgernis, das nicht durch die Ungeheuerlichkeit der Menschwerdung Gottes erregt wird, sondern durch die Verbohrtheit der Bischöfe, die ihre schwindenden Privilegien verteidigen wollen. [Und hier: die Verbohrtheit der Unionsparteien, die den schwindenen Boden ihrer kulturellen Enge und Ängstlichkeit verteidigen wollen.]

9 Gedanken zu „Deutschland unterm Kreuz“

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag, dem ich im Kern nur zustimmen kann. Das heißt, ich sehe durchaus ein Problem, wenn die gesetzmäßige Installation von Kreuzen z.B. in Klassenzimmern staatlicher Schulen plötzlich ebenso gesetzmäßig beseitigt wird. Mit anderen Worten: Natürlich ist das Anbringen von Kreuzen nicht neutral, das eifrige Entfernen ist es allerdings auch nicht. Deshalb bin ich, wo es Kreuze in Klassenzimmern gibt, generell für Einzelfallregelungen. Das nimmt Ihrer Kritik an der Geringschätzung der freiheitlichen und säkularen Demokratie bei Kirchenvertretern wie Politikern jedoch nichts an ihrer Berechtigung.
    Nun, der Treppenwitz an dieser Diskussion ist ja, dass auch die gescholtenen Kirchenvertreter und Politiker durchaus verstanden haben, dass es für die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern so etwas wie eine säkulare Begründung braucht (wenn man von der Argumentation eines Thomas Goppel absieht, dass das Christentum sozusagen als Staatsbegründung fungiert): Dann heißt es regelmäßig, dass Kreuz im Klassenzimmer symbolisiere die Freiheit (auch die der Religion), die Gleichheit von Frau und Mann, die liberale Demokatie usw. Im Klartext: Das Kreuz wird zu einem politischen Symbol, einem Symbol des Grundgesetzes.
    Christen haben selbstverständlich keine Markenrechte auf das Symbol des Kreuzes, und an symbologischen oder semantischen Umbesetzungen hat es in der Weltgeschichte noch nie gemangelt. Dennoch denke ich, dass Christen und zumal Kirchenvertreter kritisch aufmerken sollten, wenn ihre Religion in solcher Weise politisch instrumentalisiert und ihres religiösen Kerns entleert wird. Wird hier nicht der Glaube an politische Protektion verkauft?
    Übrigens bezieht sich meine Gegnerschaft gegen politische Symbole im Klassenzimmer nicht nur auf das enteignete Kreuz, sondern auch auf die mögliche Anwesenheit schwarz-rot-goldener Fahnen oder die Ausstellung von Grundgesetzen: Der Schulunterricht hat nicht zu indoktrinieren. Das Grundgesetz garantiert nämlich nicht nur die Freiheit der Religion, sondern auch die Freiheit des politischen Bekenntnisses. Das bedeutet in aller Konsequenz, dass der Staat nicht nur nicht für irgendeine Religion Partei zu ergreifen hat, sondern sich auch politischen Weltanschauungen gegenüber neutral zu verhalten hat. Der damit verbundene performative Selbstwiderspruch beschreibt eine unauflösliche Paradoxie liberaler Staatlichkeit, nämlich die Notwendigkeit der Toleranz gegenüber dem eigenen Gegner, die auch durch Konstruktionen wie die „wehrhafte Demokratie“ nicht aus der Welt zu schaffen, sondern bestenfalls einzuhegen ist.

    1. Die politische Instrumentalisierung sehe ich auch. Umso bizarrer, wenn für eine saubere theologische Interpretation des Kreuzes nicht Vertreter der Kirche einstehen, sondern das Bundesverfassungsgericht:

      Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur. […] Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem […]. Für den gläubigen Christen ist es deswegen in vielfacher Weise Gegenstand der Verehrung und der Frömmigkeitsübung. […] Es wäre eine dem Selbstverständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es […] als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition oder als kultisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezug ansehen wollte.

      (BVerfGE 93, 1 (19f))

      Der Treppenwitz geht noch weiter, wenn ausgerechnet vorgebliche Christen dieses Urteil nicht akzeptieren wollen.

      Zu den Symbolen: Nachdem ich den Text schon veröffentlicht hatte, habe ich in der Tat überlegt, ob ich das wirklich so stehen lassen will, und ich habe bewußt neben Schwarz-rot-gold auch noch Blau-weiß-rot gesetzt, weil Fahnenschwingen und schon unbefangener Patriotismus mir unbehaglich ist. Obwohl die deutschen Farben für Einigkeit und Recht und Freiheit stehen, obwohl ich die Geschichte kenne, obwohl ich auch emotional eine gewisse Ehrfurcht nicht leugnen konnte, als ich im Mainzer Landtag unter einer schwarz-rot-goldenen Fahne stand, die beim Hambacher Fest getragen wurde.
      Ich habe es stehengelassen, weil das für mich ein tragbares kulturelles Symbol ist – auch wenn ich solche Symbole nicht für nötig halte.

      Den perfomativen Selbstwiderspruch sehe ich auch; da sind wir mitten im Böckenförde-Paradoxon: Der freiheitliche Staat ist auf Grundlagen angewiesen, die er selbst nicht schaffen kann, und in der Schule wird das virulent. Eine Lösung sehe ich nicht – und bis dahin muß wohl die Einhegung des Widerspruchs genügen, und ein staatliches Bildungswesen muß versuchen, die Bedingung der Möglichkeit einer freiheitlichen Demokratie zu lehren, ohne sich für eine der Möglichkeiten zu entscheiden.

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