Verheerender Moralismus

In den aktuellen Stimmen der Zeit (Nr. 5 2014, S. 303–312) ist ein schöner Artikel von Christian M. Rutishauser SJ, »Religion und Aufklärung«, der klug durch die Bedeutung von Glaube und Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft mäandert. Eine Beobachtung über Religion und Ethik ist zu schön, um sie ganz ungooglebar zu belassen:

Ethik ist zuerst im Alltag gefragt, und Religion darf keinesfalls auf Ethik reduziert werden. Der Kurzschluss, Christsein sei ethisch verantwortetes Handeln, hat seit dem Zeitalter des Idealismus und der kleinbürgerlichen Staatserziehung unzählige Menschen drangsaliert. Sie wurden von Idealen erschlagen und fielen in Erstarrung. Schuldgefühle entwickelten sich. Nicht nur im protestantischen Christentum, auch im römisch-katholischen Milieu wirkte sich die Moralisierung verheerend aus. Es wurde kleinkariert legalistisch gedacht.

Eine herrliche Paradoxie: Ausgerechnet die Ethik schlägt um in Drangsalierung – nichts Unbekanntes, der Tugendterror der Jakobiner klingt an. Eine schöne Paradoxie, die gut zu dem paßt, was ich schon länger denke: Der Akribie muß Oikonomia beigestellt werden. Oder noch besser: Ein Lob dem prinzipienstarken Relativismus des Liberalismus, der gelten läßt und anerkennt, was gelten läßt und anerkennt, anstatt in Rekurs auf fragwürdige essentialistische Natur-, Wesens- und Eigentlichkeitsbegriffe zu sagen, wie und wie nicht alles zu sein hat. Rutishauser hat recht: Kaum etwas ist so verheerend wie Moralismus. Dilige et quod vis fac.

It goes way back.

Dylan, Bologna 2005
Bob Dylan in Bologna, November 2005. Neuere Dylan-Konzerte sind allesamt Variationen über ein Thema, optisch wie musikalisch. CC-by 2.0, JKelly
Kaum etwas ist so unersprießlich wie die Urheberrechtsdebatte. Anstatt die Mühen der Ebene anzugehen und ins Kleinklein der praktischen und pragmatischen Fragen zu gehen, geht es ums Ganze in einer Freund-Feind-Rhetorik – seitens derer, die in ihren Augen »Urheberrechtsbefürworter_innen« sind, gegen die »Urheberrechtsgegner_innen«, die doch tatsächlich gar nicht soviel wollen. Hier ein bißchen Fair use, da ein, zwei Schranken zusätzlich eingebaut, Recht auf Remix, die Legalisierung von kleinen Zitaten und Anspielungen, und weg vom Privileg des Fotoauslöserknopfes. Hilft Dylan vielleicht?
It goes way back. weiterlesen

Zwei Sorten symbolische Freiheit

Quelle: CC-by-sa 3.0, Pappnaas666
Quelle: CC-by-sa 3.0, Pappnaas666

Martin Schulz hat wohl etwas gesagt. Was genau, ist so klar nicht. Irgendwas mit religiösen Symbolen im öffentlichen Raum, die da nicht sein sollen, nur: Den genauen Wortlaut finde ich nicht.

Was Schulz gesagt hat, kann ganz verschiedenes sein — und wie ich finde, etwas sehr vernünftiges oder etwas sehr dummes. Zwei Sorten symbolische Freiheit weiterlesen

Natürlich auf der Höhe der Zeit?

Titelblatt der Ratio Studiorum von 1599
Die jesuitische Ratio Studiorum von 1599. (Gemeinfrei.)
Thomas Reese SJ hat im National Catholic Reporter einen differenzierten, wertschätzend-kritischen Blick auf das Erbe von Papst Benedikt geworfen. Kritisch ist er im Blick auf die sehr griechische Seite Joseph Ratzingers: Seine deduktive Methode, die von einem Wahren und Guten ausgeht und zwingend eins aus dem anderen folgert, und die zu seiner klaren Kante als Präfekt der Glaubenskongregation geführt hat. (Ich nenne diese Eigenart der ratzingerschen Theologie »griechisch« mit Blick auf Johann Baptist Metz’ Gegensatz von Athen und Jerusalem, mit dem Blick der griechischen Philosophie auf das zeitlose Wahre im Gegensatz zur jüdischen memoria passionis.)
Natürlich auf der Höhe der Zeit? weiterlesen

Standardformat #1: Neuer Podcast aus Freiburg

Standardformat
Thibaud und nalle in meiner Küche

Nachdem die erste Kontaktaufnahme etwas schwierig war, hatte ich am Mittwoch nalle und Thibaud bei mir in der Küche zu Gast für die erste Ausgabe von Standardformat, dem neuen Podcast aus Freiburg. Wir haben eine Weile über viele Dinge geredet, die ich so mache und für die ich stehe – von Netzpolitik über Kirche zu Erdmännchen und Frittieren.

Mir hat’s viel Spaß gemacht, und ich hoffe, daß das Format ein Erfolg wird: Standardformat ist zwar tatsächlich Standardformat (»Zwei Moderatoren und ein Gast, der im Fokus einer Episode steht«), ich habe aber das Gefühl, daß das ein sehr guter Podcast wird: Die beiden Moderatoren haben im Vorfeld einiges recherchiert (ich war selbst überrascht, was ich so alles über mich im Netz stehen habe), ein klares Konzept und eine klare Gesprächsführung (also doch etwas anders als das Standardformat) – man merkt, daß da auch klassische journalistische Ausbildung dahintersteckt. Außerdem sind Thibaud und nalle sehr gute Gäste, sie bringen Nerd-Getränke, Gastgeschenke und fast alle benötigte Technik mit. Inhaltlich soll es bei Standardformat um Freiburg gehen – interessante Leute und Institutionen im Standard-Podcast-Format vorgestellt.

Ich freue mich auf die nächsten Ausgaben Standardformat!

Endlich Ubernaut!

Logo Uberspace
(alle Rechte bei Uberspace)

Am Wochenende bin ich mit fxneumann.de komplett auf Uberspace.de umgezogen, nachdem dort bisher nur ein paar selbstgehostete Sachen für den Eigenbedarf waren. (Mittlerweile müßte sich der DNS-Eintrag rumgesprochen haben und damit wieder alles erreichbar sein.) Uberspace ist ein großartiger Host-Provider: Es geht so gut wie alles, solange 10 GB Speicher und 100 GB Traffic im Monat reichen, zum selbst festgelegten Preis ab 1 Euro pro Monat und Uberspace. Der Umzug selbst ist eine kleine und uninteressante Meldung in eigener Sache. Darüber hinaus finde ich das Konzept von Uberspace interessant, weil es Web-Hosting mit einem sehr zeitgemäßen und klugen Ansatz betreibt: Hervorragende Kommunikation und angemessener Umgang mit Knappheit.
Endlich Ubernaut! weiterlesen

Waffenhandel

Aktion AufschreiSchon vor zwei Wochen habe ich für das Konradsblatt einen Namensbeitrag zum Thema Waffenhandel geschrieben; nicht unbedingt meine Kernkompetenz, da wir als Diözesanrat Freiburg da aber engagiert sind im Rahmen der Aktion Aufschrei, wurde ich gefragt.
Waffenhandel weiterlesen

Von Automatik zu Autonomie

De Anima, Titelblatt einer Inkunabel aus dem 15. Jahrhundert
De anima (CC by 2.0, Penn Provenance Project)
Zu den heftigeren Debatten meines Philosophiestudiums gehörte die im De-anima-Seminar von Professor Figal über die Frage, ob es künstliches Leben geben könne. Heftig vor allem deshalb, weil schon die Prämisse der Frage nicht zu vermitteln war: Wenn für Aristoteles Leben über die Seele bestimmt ist, und die grundlegende Funktion der vegetativen Seele Ernährung und Fortpflanzung ist, Leben also auf die Erhaltung der Art zielt – läßt sich dann eine (natürlich künstliche) Maschine bauen, die diese äußeren Merkmale nachahmt – also etwa selbst-replizierende Roboter –, die dann tatsächlich lebt? Warum das laut meinem Professor nicht der Fall sein soll, habe ich nicht verstanden, zumal von einem Phänomenologen: Wenn es sich in den relevanten Merkmalen wie Lebendiges verhält, was unterscheidet es dann von Lebendigem? Die alte Aristoteles-Debatte: Ist sein Lebensbegriff materialistisch-funktionalistisch oder vitalistisch? Ist das Lebensprinzip, das Aristoteles Seele nennt, eine eigene und spezielle Lebenskraft (das ist der Vitalismus), oder ist es eine phänomenologische Beschreibung davon, wie sich etwas zeigt, das lebendig genannt wird?

An diese Debatte aus meinen Studienzeiten hat mich gestern ein Tweet von Christoph Kappes erinnert, der sich dann doch nicht auf den Artikel zur Ethik autonomer Systeme bezogen hat:

(Wobei ich anderer Meinung bin: Ethik gilt für Lebewesen, Automaten “handeln” nicht, “Handeln”=>Menschen.)

Von Automatik zu Autonomie weiterlesen

KjGay: LGBTI-Perspektiven zum Vatikan-Fragebogen

Heute hat die KjGay, das LesBiSchwule Netzwerk der Katholischen jungen Gemeinde (mein Heimat-Jugendverband) eine Stellungnahme zur Umfrage des Vatikans zur Planung der Familiensynode veröffentlicht: Familienpastoral für alle Familien. (Disclosure: Bei der Ideensammlung und durch Kommentare am Entwurfstext war ich auch beteiligt.)

Ich finde den Text sehr gelungen, weil hier sehr deutlich, unaufgeregt und ohne viel Diplomatie Katholik_innen sehr diverser sexueller Identitäten und Orientierungen etwas dazu sagen, wie sie in der Kirche leben und Kirche sind: »Wir möchten Teil einer Gesellschaft und einer Kirche sein, in der individuelle Lebensentwürfe gelebt werden können und Menschen nicht durch ihre gelebte Liebe in Konflikte mit der kirchlichen Morallehre gebracht werden.« Das Papier macht deutlich, daß es um Liebe und Verantwortung geht – und nicht um Politik. (Auch wenn es für die Anerkennung dieser Liebe und Verantwortung leider eine gut organisierte Lobby braucht.) Nur angedeutet wird, daß die Prinzipien der katholischen Soziallehre von Personalität, Solidarität und Subsidiarität durchaus eine Sexualmoral stützen können, deren Prinzipien safe, sane, consensual sind.

Unten noch einige Ausschnitte.
KjGay: LGBTI-Perspektiven zum Vatikan-Fragebogen weiterlesen