Flanieren am Fluß

Evgeny Morozov beklagt den »Tod des Cyberflaneurs«. Schuld ist natürlich Facebook, schuld ist natürlich die Kommerzialisierung. Das ziellos-staunende Wandern der guten alten Zeit des Netzes werde bedroht durch Facebook. Früher war alles besser, da echt und eigentlich und überhaupt indie und mehr Lametta. An Stelle echter Entdeckungen und sprudelnder Pluralität und Kreativität tritt der Moloch Facebook, der das wilde Netz im gebändigten und kontrollierten Stream kolonialisiert.

Ich glaube dem großen Kulturpessimisten Morozov nicht. Als ob es nicht immer noch (und immer mehr!) Orte gibt, durch die sich stundenlang cyberflanieren läßt: Tumblr und soup.io erwähnt er erst gar nicht – zu offensichtlich sind diese memetischen Wasserfälle genug Beweis gegen seine These. Hat Morozov sich nie in der Wikipedia flanierend verloren, wollte nie schnell die Einwohnerzahl Belgiens nachschlagen, um irgendwann in Memory Alpha beim Begehren reifer Betazoiden anzukommen? Noch nie versehentlich einem Link zu TV tropes gefolgt? Und daneben steht immer noch all das, was Morozov in den 90ern so faszinierte: Immer noch gibt es erschreckend faszinierende Parallelwelten von Verschwörungstheorien, Absurdes bei eBay, grotesk detailreiches Nerdtum jeglicher Ausprägung.
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Kunst kämpft um Anerkennung

Erst jetzt der Hinweis auf einen hervorragenden Text von Thierry Chervel im Perlentaucher zur Urheberrechts-Debatte im Literaturbetrieb: Die schöne Seite der Kostenlosmentalität.

Chervel analysiert klug den seltsamen Sachverhalt, daß ausgerechnet die noch am wenigsten betroffenen Urheber_innen aus der Literatur jetzt so lautstark aufschreien:

Das Problem dieser Autoren mit dem Netz ist weniger, dass es ihre Einnahmen als dass es ihr Selbstbild als Autor in Frage stellt.

Chervel spinnt das ein wenig polemisch (aber wohl zutreffend) weiter; der Literaturbetrieb verweigere sich dem Netz, neue Formen des Schreibens würden nicht ergriffen. Das Zitat enthält darüber hinaus eine sehr kluge Betrachtung: Urheberrecht hat im Begriff schon die Überhöhung angelegt – und die heftigen Reaktionen, die Urheberrechtsdebatten hervorrufen, haben ihren Grund im Auseinanderklaffen von idealisiertem Künstlerselbstbild und ökonomischer Realität.

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Kasseler Hegemonialkunst

In Kassel sorgt ein Guerilla-Kunstwerk (das so guerilla gar nicht ist) für Aufsehen: Auf dem Turm der St.-Elisabeth-Kirche steht eine Skulptur von Stephan Balkenhol, eine Figur mit ausgebreiteten Armen – und das während des Hochamts. Dem kulturellen Hochamt, der documenta 13, und die Leiterin ist tief erschüttert von dieser ungenehmigten Kunst. »Schockiert«, »traurigstes Erlebnis«, »gewaltsam« sind Zitatfetzen aus dem Artikel der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine.

Die Argumentationsfigur in etwa: Wenn in Kassel während der Documenta Kunst passiert, dann wird das von der Documenta veranstaltet. (Da könnte ja jeder kommen.) Die Installation auf dem Kirchturm zerstört »gewaltsam« das Konzept des Friedrichsplatzes, der die »ökologische Perspektive« der Documenta repräsentieren solle. Und da passe eine Installation, die prominent einen Menschen darstellt, nicht dazu: »Es wird hier keine künstlerische Repräsentation des Menschen geben«, kommentiert die Leiterin der Documenta Carolyn Christov-Bakargiev.

Mehrere Aspekte befremden mich an diesem Vorgang:
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Dienstleistung auf den Schultern von Giganten

Dietrich Brüggemann schreibt einen schönen Text zum Urheberrecht: »Mein Plattenladen heißt Herunterladen« – sein Ansatz ist, das eigene Nutzungsverhalten anzuschauen und auf dieser Basis dann zu diskutieren, anstatt Strohmann-Argumente über Extreme zu benutzen: »Künstler haben eine lebhafte Phantasie, und Nerds neigen ohnehin zur Paranoia, daher die Hysterie auf beiden Seiten der Debatte.«

Mit diesem Ansatz kommt er auf sehr pragmatische Schlüsse, bei deren Anwendung keine Seite sich übervorteilt vorkommen müßte. In einem Punkt möchte ich ihm widersprechen. Er vermengt an einer Stelle Werk und Dienstleistung und baut selbst ein Strohmann-Argument.
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Der amputierte Prothesengott. Phänomenologische Betrachtung des »offline sein«

»Welche Bedeutung für Euer Leben hat ›offline sein‹?«, fragt tante in Formspring.

»Kein Netz« ist ein Mangel, den es zu beheben gilt. »Offline sein« ist keine Tugend, genauso wie »keine Brille« eine heilsame Bescheidenheit und Zurücknahme ist. Es ist ganz und gar sinnlos, bestenfalls alberne Koketterie, nicht die vergessene Brille möglichst schnell wieder aufzusetzen oder den Zustand, in dem es kein Netz gibt, wieder zu reparieren. »Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.« (Freud, Das Unbehagen in der Kultur.)

»Offline sein« ist auch begrifflich aus der Welt gefallen.
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Erinnern und Verzeihen

Der hervorragende Podcast »This American Life« hat eine Folge über die Arbeitsbedingungen bei Apple-Zulieferern zurückgezogen. Mike Daisys eindrücklich szenische Solo-Lesung, in der er über seinen Besuch in Shenzhen berichtet, war in wesentlichen Teilen erfunden. Der redaktionelle Prozeß wurde in der Podcast-Folge Retraction geschildert, inklusive eines ausführlichen Interviews mit Daisy.

Selten habe ich mich so unwohl gefühlt beim Podcast-Hören.
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Gelesen: Daniel Miller, Das wilde Netzwerk

Daniel Miller geht das Thema Facebook in »Das wilde Netzwerk« ethnologisch an: Mit dem Blick auf fremde Kulten – bei ihm ist es die Trinidads – wird das vom bekannten unsichtbar gemachte sichtbar gemacht.

Das funktioniert hier sehr gut: Meine These war bisher immer, daß sich gesellschaftliche Normen für das Netz erst bilden müßten – und wir deshalb noch hilflos vor Phänomenen wie unklaren Grenzen zwischen öffentlich und privat und dem Umgang mit quasi transaktionskostenloser Kommunikation stehen.

Miller dagegen bestätigt wieder einmal Felix Schwenzels These, daß das Internet primär deshalb scheiße sei, weil die Welt scheiße ist:
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Der post-private Übermensch

mspro entwickelt gerade eine Ethik des radikalen Rechts des Anderen; auf der Basis von Hannah Arendt und Emmanuel Levinas denkt er radikal durch, was Öffentlichkeit im Zeitalter des weitgehend transaktionskostenfreien Kopierens, Verknüpfens und Abfragens bedeutet: »Das radikale Recht des Anderen ist die Souveränität beim Filtern«, ist mspros Lösungsvorschlag.

Vorweg, wo ich mit mspro völlig einig bin: Das Konzept der digitalen Öffentlichkeit ist von grundsätzlicher Wichtigkeit, um überhaupt zielführend über Netzregulierungen und Urheberrecht zu diskutieren. (Ich habe das in meinem Artikel Der Öffentlichkeit nicht den Boden entziehen. Anforderungen an ein neues Urheberrecht diskutiert.) In der Analyse des Kontrollverlustes stimme ich ihm zu; das hergebrachte Datenschutz-Prinzip der »Zweckbindung« schränkt die Öffentlichkeit zu sehr ein, als daß es ein sinnvolles Prinzip für die Nutzung jeglicher Art von Daten wäre.

Problematisch finde ich nur die ethischen Implikationen, die er daraus zieht, denn mspros Ethik ist eine Ethik des Übermenschen.
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White and nerdy

Ein Fall von ganz schlimmem Nerdtum ist wohl, wenn man bei Nerdcore (!) das hier liest:

[…] genauso wie wir im Grunde niemals etwas wirklich berühren, sondern es lediglich die Elektronen-Orbitale sind, die sich gegenseitig abstoßen […]

Und der erste Gedanke ist: Da hat der Heidegger wieder mal recht (sort of …), und man die Stelle in »Sein und Zeit« auf Anhieb findet (§ 12, S. 55):

Von einem »Berühren« kann streng genommen nie die Rede sein und zwar nicht deshalb, weil am Ende immer bei genauer Nachprüfung sich ein Zwischenraum zwischen Stuhl und Wand feststellen läßt, sondern weil der Stuhl grundsätzlich nicht, und wäre der Zwischenraum gleich Null, die Wand berühren kann. Voraussetzung dafür wäre, daß die Wand »für« den Stuhl begegnen könnte. Seiendes kann ein innerhalb der Welt vorhandenes Seiendes nur berühren, wenn es von Hause aus die Seinsart des In-Seins hat – wenn mit seinem Da-sein schon so etwas wie Welt ihm entdeckt ist, aus der her Seiendes in der Berührung sich offenbaren kann, um so in seinem Vorhandensein zugänglich zu werden. Zwei Seiende, die innerhalb der Welt vorhanden und überdies an ihnen selbst weltlos sind, können sich nie »berühren«, keines kann »bei« dem andern »sein«. Der Zusatz: »die überdies weltlos sind«, darf nicht fehlen, weil auch Seiendes, das nicht weltlos ist, z. B. das Dasein selbst, »in« der Welt vorhanden ist, genauer gesprochen: mit einem gewissen Recht in gewissen Grenzen als nur Vorhandenes aufgefaßt werden kann.

That’s matrimony

Breaking news heute abend: Guido Westerwelle und Michael Mronz haben geheiratet, und alle relevanten Onlinemedien berichten. Vermutlich ist es nur derselben Agenturmeldung und demselben Bild-Artikel als Quelle zu verdanken, daß so unisono davon berichtet wird. Und dennoch: Daß alle, auch die konservativen, von der FAZ über die NZZ zur Welt selbstverständlich mit Begriffen wie »Heirat« und »Trauung« berichten, dann kann man das zwar – wie Gaywest – als mangelnde Detailtreue auffassen, weil die Ehe der beiden ja rechtlich mitnichten als Ehe anerkannt ist.

Man kann es aber auch so sehen: politischer Aktivismus ist eine Sache, die für die rechtliche Gleichstellung Homosexueller nötig ist, und da ist es immer wieder nötig zu sagen, daß gleichgeschlechtlich Liebende eben keine Ehe im rechtlichen Sinn eingehen können. Ebenso wichtig – und ich würde sogar sagen: noch wichtiger – ist aber doch, daß mit solchen bei Licht betrachtet eher nachrichtenarmen Gossip-Artikeln es auch eine kulturelle Selbstverständlichkeit wird, daß, wenn zwei Menschen sich lieben und sich das verbindlich zusagen, das nicht irgendein wie auch immer staatlich reglementiertes vertragsähnliches Gebilde ist – sondern eine Ehe.